So voll Hunger nach Leben, dass ich mich umbringen könnte

 

„Ficken“ brabbeln die Lippen des alten Mannes,
als ihm die Schwester die Bettpfanne unterschiebt.

„Ficken“, lallt die Zunge des alten Mannes,
als die Ärztin mit der Thrombosespritze hereinkommt.

„Ficken“, krächzt der Kehlkopf des alten Mannes,
als die Stimme der glücklichen Hausfrau aus dem Fernseher tönt.

„Ficken“, rasselt die Luftröhre des alten Mannes,
als er aus dem Zimmer geschoben wird.

„Die geben nie auf“, sagt die Schwester zur Hilfsschwester auf der Station,
„bis zum Schluss nicht!“

Playlist:
Mr. and Mrs Smith – Last Night Downtown – BY-NC-SA
Martin Auer – Ficken – BY-NC-SA
Steve Gunn – Old Strange – BY-NC-ND
Martin Auer – So voll Hunger nach Leben – BY-NC-SA
Blanket Music – I‘m Fat – BY-NC
Mr. and Mrs Smith – Crashed – BY-NC-SA
Underscore Orkestra – Dobur Vecher – BY-NC-SA
Latché Swing – Songe d‘ Automne – BY-NC-SA
Michael Chapman and the Woodpiles – Deportee – BY-NC
Martin Auer – Der Türsteher – BY-NC-SA
Cian Nugent – Rathsallagh Rose – BY-NC-ND
Kevin McLeod – Signation – BY

So voll Hunger nach Leben, dass ich mich umbringen könnte
Ich kam aus dem Spital und mein Vater hatte irr geredet, so seltsam, man merkte es zuerst gar nicht, denn er redete in Tonfällen, die wir kannten von ihm, seine Familie, wir saßen alle um ihn und lachten, wenn er Volvic sagte statt Münze, Volvic, es ging ihm nicht aus dem Kopf, dieser seltsame Name für ein Mineralwasser, es tat ihm weh, sagte er, dieses Wort, meine Schwester hatte die Plastikflasche aus London mitgebracht, sie füllte sie immer an der Wasserleitung, da war kein französisches Wasser drin, aber dieser Name, Volvic, er schmerzte meinen Vater, wir saßen um ihn, im Fernsehraum der Station, sein Bettnachbar wollte schlafen, so hatte sich mein Vater aus dem Bett geschleppt, in den Fernsehraum, ach, nicht nur aus Höflichkeit, er wollte doch nicht mehr bettlägerig sein, er sollte doch morgen entlassen werden, mit dem Herzschrittmacher in seiner Brust, gerüstet nun für neue Jahre, generalüberholt sozusagen, mit geputzten Herzkranzgefäßen, und Volvic, und er müsste nun das streichen vom Internet, sagte er, was denn, vom Internet, sagte er, die Dateien, die müsste er streichen, löschen, was er angemerkt hatte, und warum, sagte er, geht es mir so schlecht, warum fühl ich mich nicht gut, ich versteh das nicht, hab ich das nötig, dieses Volvic, dass ich mich nicht gut fühl, und er sagte das in dem Ton, in dem er immer seine Witze macht, und dann hustete er, ach er hustet ja schon so lang, er hat sich die Lunge weggeraucht in seinen ersten vierzig Jahren, und die zweiten vierzig hat er gehustet, und dann die Schmerzen im Rücken, das ist eine Scheiße, sagte er, diese Schmerzen im Rücken, hab ich das nötig, der Knochenschwund ist das, die Osteoporose, zwei Wirbel sind praktisch völlig weg, zerrieben zu Sand, wenn einer vierzig Jahre nur im Auto sitzt, nicht mehr geht, weil das Knie kaputt ist, weil der Fuß lädiert ist, dann schwinden die Muskeln, dann schwinden die Knochen, ach, und man merkt es nicht, denn man fährt ja die schnellen Autos, die sechzehn, die zwanzig Liter Benzin versaufen auf 100 Kilometer, ach, und nun ist es vielleicht vorbei, nun ist man nicht mehr der älteste aktive Motorjournalist auf diesem Planeten, nur mehr alt ist man jetzt, und das will er nicht, nur mehr alt sein, nein, er weigert sich, er will raus aus diesem Spital, hat zu tun, ohne ihn wird das Blatt nicht fertig, und Volvic, und vorher, bevor die anderen gekommen waren, war ich allein mit ihm, und die Schmerzen, und ich musste ihm die wärmende Salbe auf den Rücken schmieren, er zog sich das Nachthemd hoch, dieser faltige, fette, abgemagerte Hintern, das war mein Vater, der Mächtige, der Garant, dass mir nichts passieren kann, mir, dem fünfzigjährigen Sohn, ich musste dieses faltige, fette, abgemagerte Fleisch anfassen und die wärmende Salbe einreiben, dieser riesige runde Kopf mit dem weißen Bart, dieser faltige Hals, dieser mächtige Bauch, diese dünnen Beine, diese gelben Sohlen mit der rissigen ausgetrockneten Haut, das ist mein Vater, der Große, vor dem ich mich oft geschämt habe, weil ich zu weichlich war, zu mädchenhaft zart, ja, schau mich an, mich mit dem Stiernacken, mit der Glatze, mit dem Bauch, ich war nur ein Bürschchen, ein zartes, hab mich beim Fußball vor dem Ball gefürchtet, und dann, eines Tages, habe ich ihn an mich gedrückt, im Spaß, ihn, den alten Pfadfinder, der sich mit zwei gebrochenen Beinen den Berg hinuntergeschleppt hat, ihn, den Flüchtling vor den Judenmördern, ihn, den Schiffskoch, der fünfhundert Mal Speck mit Eiern gebraten hat, ihn den Soldaten mit dem breitkrempigen Hut der australischen Armee, ihn, den rasenden Reporter auf dem Motorrad, ihn, den Reformkommunisten, der gegen die Stalinisten aufmuckte, ihn, den Taxifahrer, Fernsehreporter, Kolumnisten, habe ihn an mich gedrückt, im Spaß, und ihm fast die Rippen gebrochen, ihm den Atem genommen, dass er auf dem Boden auf alle Viere gehen musste um wieder zu Atem, zu sich zu kommen, mein Gott, wie lange ist das her, und doch war er immer für mich der Starke geblieben, der Unüberwindliche, der Patriarch, und nun erst sah ich ihn leiden, nun erst sah ich ihn schwach, unsinniges Zeug daher brabbelnd, und wir, seine Familie, saßen um ihn und lauschten und lachten und konnten gar nicht begreifen, dass er nicht scherzte.
Und am Abend ließ ich mir ein Mädchen kommen, Katalog im Internet, hundertzwanzig Euro, ach, der schlanke Leib und der runde Hintern, ach die kleinen Brüstchen, die langen Beine, das braune Haar, und ich telefonierte und das Mädchen am anderen Ende sagte, es dauert noch, sie ist grade unterwegs, aber wenn sie fertig ist, ruf ich dich an, und als sie zurückrief, sagte sie, sie fährt noch nach Hause, duschen, in vierzig Minuten ist sie bei dir, und ich sagte, Mensch, denk dir doch etwas aus, so redet man nicht, wer will denn wissen, dass ein Mädel direkt von einem anderen Job kommt, und als sie dann da war, war sie eine Polin, Carmen, wer hatte ihr den Namen gegeben, sie lachte und zitterte und sagte, sie sei erschöpft, ein schwieriger Tag, ach, das schöne Mädel, und ich fragte warum? die Mama, sagte sie, im Spital, mit Kanzer, und dann schlüpfte sie aus dem Pullover und lächelte, und dann aus der Hose, und fragte, die Strümpfe auch ausziehen? und ich sagte ja, und als wir beide nackt waren, wollte sie ihr Bild im Internet sehen, denn sie wusste noch nicht, wie es aussah, und ich ging mit ihr ins andere Zimmer und zeigte es ihr, es war noch auf dem Bildschirm, ach, der schlanke Leib und der runde Hintern, die kleinen Brüstchen, die langen Beine, nur das Gesicht sah man nicht, und sie fragte mich: warum mich? da sind so viele Schöne mit blonden Haaren und großen Busen, und ich sagte, ich mag aber lieber die kleinen, und küsste die Knospen, und dann küsste sie mich auf den Mund und wir gingen zurück ins Zimmer und legten uns auf das Bett und küssten und hielten uns, und ich dachte an ihre Mama im Spital mit Kanzer, und sagte, mein Vater ist auch im Spital, das Herz, und so redeten wir, und hielten uns und sie küsste mich, aber Französisch nur mit Gummi, willst du das jetzt? und ich nickte, aber sag mir noch, wie du wirklich heißt, aber nur, wenn du willst, und sie schüttelte den Kopf und ich sagte, gut, dann bist du Carmen und hielt sie und küsste sie, aber dann sagte sie, es fängt auch mit K an, und ich sagte Katarzyna? nein, sagte sie, und lachte, wieso kennst du polnische Namen, ich war schon öfter da, sagte ich, und wo? in Wrocław und Poznan und Kraków und Warszawa, ich bin aus Poznan, sagte sie, aber am schönsten ist Kraków, ja, sagte ich, und hielt sie und küsste sie, und: mein Name ist Kinga sagte sie, das ist ein seltener Name, auf Deutsch ist es Kunigunde, Kinga, sagte ich, Kinga und hielt sie ganz fest, und dann machte sie mir Französisch mit Gummi, und als ich sie hinlegte und zwischen ihren Schenkeln kniete und in sie eindrang, da wich sie zurück, sie lächelte und wich zurück und ich sagte, du willst mich nicht in dir und sie sagte, ich habe Schmerzen, vielleicht kommt meine Menstruation, ich weiß das nie, das ist bei mir so, und ich sagte, lass nur, ich rufe nächste Woche wieder an, dann kommst du zu mir und dann werden wir ficken, und ich hielt sie fest und dann holte ich noch eine Decke für ihre kalten Füße und wir hielten uns und sie fragte mich, ob ich auch schwarze Mädchen mochte, und ich sagte, ich hatte einmal eine Freundin, aber das ist lange her, und? sagte sie, sie war nett, sagte ich, und wir waren jung, das ist alles, ich habe auch einen schwarzen Freund, sagte sie, er ist aus Nigeria und kann gut kochen, ja, sagte ich, in Westafrika ist die Küche besser, ich war in Kenia, und dort gibt es nur Mais und Kohl, weiß dein Freund, welchen Job du machst? ja, aber nur so ungefähr, verstehe, sagte ich, und als sie mich anfasste, sagte ich, nein, du musst nichts mehr tun, wir machen es nächste Woche, gut, sagte sie, nächste Woche, und dann fahre ich zu meiner Mutter und dann läutete sowieso ihr Handy, die Agentur, die Stunde war um, und ich brachte sie zur Tür und sagte, es ist schön mit dir, und dann ging ich hinauf und rief wieder die Agentur an und ließ mir Carla schicken, die kam aus Rumänien.

Der Türsteher
Es war vor nicht allzu langer Zeit ein Mann, der war Türsteher in einem Bordell. Das Bordell war, glaube ich in Stuttgart, es kann auch in Duisburg gewesen sein. Der Türsteher war einmal Tiefbauingenieur gewesen. Aber dann hatte er seine Frau verloren, zu saufen begonnen und seinen Job geschmissen, wie das manchmal so geht. Als Tiefbauingenieur war er viel auf Reisen gewesen, seine Firma baute Untergrundbahnen in Osteuropa, Eisenbahntunnel in Russland, künstliche Inseln in Arabien, Containerhäfen in Indien und ich weiß nicht, was noch alles. Da er ein paar Fremdsprachen konnte und immer gern noch eine neue Sprache dazu lernte, schickte seine Firma mit Vorliebe ihn ins Ausland. Und das hatte eben Folgen für seine Ehe. Ein Jahr oder so nach der Scheidung stürzte in Kenia eine Brücke ein und ein einheimischer Bauarbeiter wurde erschlagen. Er war nicht wirklich verantwortlich für den Unfall, die örtliche Vertragsfirma hatte an den Sicherheitsvorkehrungen gespart, aber er fühlte sich schuldig, weil er den Vertrag bei einem Besäufnis mit den Direktoren unterschrieben hatte und nicht genug Erkundigungen über seine Partner eingezogen hatte. Also kündigte er seinen Job und beschloss Schriftsteller zu werden. Er dachte, er hätte doch genug erlebt in der Welt. Aber über ein paar Notizen und Entwürfe kam er nicht hinaus, es war einfach nur ein Vorwand fürs Nichtstun und Saufen. Seine Ersparnisse wurden weniger, und als er auf tausend Euro herunter war, ging er in eine Bar, zahlte allen Mädchen Champagner, unterhielt sich mit jeder in ihrer Sprache und ging schließlich mit einer aufs Zimmer. Als er wieder herunter kam, fragte ihn die Frau hinter der Bar, ob er noch was trinken wolle. Nein, sagte er, das war mein letztes Geld, ich geh mich jetzt aufhängen. Die Frau hinter der Bar lachte und sagte: »Na komm, ich geb dir ein Bier aus«, und dann unterhielten sie sich auf Polnisch. Sie war die Besitzerin des Etablissements und aus Polen, und so gab eins das andere. Er erzählte ihr seine Geschichte und sie bot ihm den Job als Türsteher an, weil er alle Sprachen konnte. Sie zahlte ihm zwar nicht viel, 5 Euro in der Stunde, aber das regelmäßig, und er konnte in einem der Zimmer schlafen, wenn die Bar geschlossen hatte. Abends musste er in einer Phantasieuniform vor der Tür stehen, eigentlich war es nur ein langer roter Mantel mit goldenen Achselklappen, der ihm ein bisschen zu groß war, und eine rote Schildkappe mit goldener Schnur. Wenn Männer vorbeigingen, musste er sie ansprechen: »Guten Abend, haben Sie nicht Lust auf ein bisschen Spaß, kühles Bier, schöne Mädchen, anschauen kostet nichts!« Und natürlich musste er ein geheimes Signal geben, wenn jemand ins Lokal wollte, der nach Polizei aussah. Dann verschwanden die Mädchen nach oben in ihre Privatzimmer, bis auf die zwei, drei, die legal hier arbeiteten.
Zwischendurch wurde er auf Besorgungen geschickt, Kebabs holen für die Mädchen oder Pizza, aber nie um Zigaretten, denn die Chefin hatte geschmuggelte Zigaretten, die sie den Mädchen zum Selbstkostenpreis abgab. Am Tag half er der Chefin die Getränkelieferungen in die Kühlbox schlichten oder sie schickte ihn in den Beate-Uhse-Laden, wo er Kondome in Tausender-Packungen holte. Die meisten Mädchen wohnten auch in dem Bordell, sie schliefen aber nicht in den Gästezimmern, sie hatten eigene Zimmer, wo sie zu dritt oder zu viert hausten. Die Mädchen lässt du ab jetzt in Ruhe, hatte die Chefin gesagt, kein Anbandeln! Als Liebhaber kam er für die Mädchen sowieso nicht in Frage, dafür war er schon zu alt. Aber sie freundeten sich schnell mit ihm an, die, die länger blieben, jedenfalls. Polnisch und Russisch sprach er fast perfekt, und auf Polnisch konnte er sich auch mit den Ukrainerinnen, Weißrussinnen und Slowakinnen verständigen, bei den Bulgarinnen und Mazedonierinnen konnte er sich mit Russisch helfen. Ein paar Brocken konnte er sowieso auch von jeder dieser Sprachen. Seine Rumänischkenntnisse ergänzte er mit Italienisch, aber die meisten Rumäninnen sprachen recht gut Englisch und Spanisch, weil sie zu Hause die Hollywoodfilme und Telenovelas im Fernsehen in der Originalsprache sahen. Sein Türkisch brauchte er nicht wirklich, denn die türkischen Mädchen, die in die Bar kamen, waren in Deutschland geboren. Mit den Nigerianerinnen sprach er Englisch und mit den Mädchen aus Ghana Französisch. Manche, die erst frisch angekommen waren und noch gar kein Deutsch konnten, baten ihn, ihnen beim Einkaufen zu helfen, wenn sie mit dem ersten verdienten Geld schicke Unterwäsche für die Arbeit und coole Handys kauften. Sie schickten ihn so oft um Telefonwertkarten, dass er sie auf Vorrat kaufte, um immer welche bei der Hand zu haben, denn die Mädchen telefonierten ständig, mit ihrem Freund zu Hause oder auch mit der Mutter – nicht wenige hatten ein Baby, das von Mutter oder Tante oder Großmutter betreut wurde – oder sie telefonierten mit Freundinnen, die in anderen Etablissements oder in anderen Städten und anderen Ländern arbeiteten. Einige Mädchen brachte er zum Zahnarzt oder zum Gynäkologen, wenn sie Probleme hatten und er zeigte ihnen, wie sie sicher Geld nach Hause schicken konnten, ohne die horrenden Gebühren für Western Union zu bezahlen.
Bei dem freundschaftlichen Umgang mit den jungen Mädchen erholte er sich langsam von seinem Leid. Wenn er mit ansah, was manche von ihnen durchmachten, kam ihm sein Selbstmitleid recht lächerlich vor. Er sparte ein bisschen und mietete sich wieder eine eigene kleine Wohnung. Er kaufte auch ein paar billige Möbel und manchmal ging er dann wirklich in den frühen Morgenstunden in seine eigene Wohnung, wenn er einmal nicht im Geruch von Rauch und Schweiß und Desinfektionsspray schlafen wollte. Aber eigentlich blieb er gern in der Nähe der Mädchen. Er fühlte sich aufgehoben in dieser kleinen Welt.
In einer Nacht passierte es, dass ein betrunkener Gast einem Mädchen das Nasenbein zerschlug. Der Türsteher war gerade draußen, als er von drinnen die Alarmglocke hörte. Jedes Zimmer hatte einen Klingelknopf für den Fall, dass ein Gast brutal wurde oder durchdrehte. Er riss die Tür auf und rannte durch die Bar nach hinten in den Gang, der zu den Zimmern führte, aber als er zu dem Zimmer kam, über dessen Tür die rote Lampe blinkte, war die Chefin – sie war eine ziemlich massige Frau – schon dabei, den Gast durch die Hintertür hinauszubugsieren. Das Mädchen kauerte auf dem Bett, hielt sich die Hände vors Gesicht und weinte. Unter ihren Händen rann Blut heraus. Sie war eine Bulgarin, die er sehr mochte. Nach einem Job verzog sie sich immer ein oder zwei Stunden auf ihr Zimmer, bevor sie wieder herunterkam. Sie hatte ihm erzählt, dass ihr Freund wegen Dealens in Untersuchungshaft war, und sie hier das Geld verdienen wollte, mit dem sie vielleicht jemand bestechen oder ihm wenigstens einen guten Anwalt beschaffen konnte.
Zeig her, sagte er auf Russisch und zog ihr vorsichtig die Hände vom Gesicht. Das Blut kam aus der Nase, das war nicht so schlimm, aber die Nase war geschwollen und er war sicher, dass das Nasenbein gebrochen war.
Sie flüsterte: »Er wollte etwas von mir, aber das mache ich nicht.«
»Ich bringe dich ins Spital«, sagte er.
»Nein, sagte sie, nicht ins Spital!« Sie schüttelte unwillkürlich den Kopf und schrie dabei auf vor Schmerz.
»Du musst ins Spital, wir müssen sehen, ob die Nase gebrochen ist. Sonst wirst du immer mit einer dicken Nase herumlaufen.«
»Aber ich kann nicht!«
»Komm, wir sagen, du bist spazieren gegangen und ein Betrunkener wollte mit dir anbandeln und hat dich geschlagen, als du nein gesagt hast.«
»Nein, ich will nicht ins Spital. Bitte!«
Die Chefin kam zurück und der Türsteher sagte ihr, dass das Mädchen ins Spital musste, und das Mädchen begann vor Angst zu zittern und sagte wieder: Ich kann nichts ins Spital!
Die Chefin runzelte die Stirn und sah das Mädchen an: »Sag, hast du mir eigentlich schon deinen Pass gezeigt?«
Das Mädchen blickte zu Boden und schüttelte kaum merklich den Kopf.
Es stellte sich heraus, dass das Mädchen noch nicht einmal siebzehn war.
Die Chefin beschäftigte keine Minderjährigen, das war ihr zu gefährlich, sie ließ sich von allen immer den Pass zeigen. Aber in diesem Fall hatte die Zuhälterin, die ihr das Mädchen vermittelt hatte, sie schon seit Wochen mit irgendwelchen Vorwänden hingehalten, bis die Chefin die Sache vergessen hatte.
»Raus!« sagte die Chefin und ging aus dem Zimmer.
Der Türsteher bestellte ein Taxi, fuhr mit dem Mädchen ins Spital, ließ ihr die Nase einrenken und brachte sie dann in seine Wohnung. Dann fuhr er zu der Zuhälterin und drohte ihr mit einer Anzeige wegen Menschenhandels, wenn sie ihm den Pass nicht herausgeben würde.
»Die sagt nie aus gegen mich«, sage die Zuhälterin, »dann weiß ihre ganze Familie und die ganze Stadt, was sie hier gemacht hat. Gib mir zweitausend Euro und du kannst sie haben.«
»Sie hat dir schon mehr als das abgeliefert. Vielleicht sagt sie nicht aus, aber ich zeig dich trotzdem an und du hast monatelang Scherereien und verlierst viel mehr als zweitausend, bis du wieder Mädchen herbringen kannst. Ist dir das die Sache wert?«
Er bekam den Pass.
Der Türsteher ließ das Mädchen bei sich wohnen, bis ihre Nase wieder verheilt war. Sie wollte für ihn kochen, aber ihr Essen war so, dass lieber er für sie kochte. Dafür putzte sie ihm die Wohnung. Wenn er um die Mittagszeit kam – er schlief wieder in einem der Gästezimmer im Club – hielt sie für ihn ein Frühstück bereit. An den Nachmittagen schauten sie Videos, bevor er zur Arbeit ging, denn es stellte sich heraus, dass sie wie er Filme von Jim Jarmusch und Almodovar mochte.
»Ich mag es nicht, wenn mir die Musik sagt, was ich fühlen soll«, sagte sie einmal.
Sie erzählte ihm von einem Buch, dass sie gelesen hatte, über einen Vietnamkriegs-Veteranen, der nicht mehr spricht und so tut, als wäre er ein Vogel. Er kaufte das Buch und las es und dachte sich so sein Teil, warum ihr gerade dieses Buch so wichtig war. Einmal in der Woche, wenn ihr Freund im Gefängnis Besuchstag hatte, rief sie seine Mutter an und gab ihr Grüße für ihn mit und erzählte ihr, wie es ihr angeblich in dieser Woche ergangen war, damit die Mutter es ihm berichten konnte. Ihre Geschichte war, dass sie hier in einem Restaurant als Küchenhilfe arbeitete, und jede Woche dachte sie sich Geschichten aus, welche Eifersuchtsszenen sich die beiden schwulen Kellner schon wieder geliefert hatten und was der Hund der Köchin wieder angestellt hatte und wie der Chef sie wieder einmal gelobt und ihr den Lohn erhöht hatte. Und dann sagte sie noch: »Und vergiss nicht zu sagen, dass ich ihn liebe!« Und am Abend des Besuchstages rief sie wieder an, um zu hören, welche Neuigkeiten ihr Freund ihr geschickt hatte und ob er auch ausrichten ließ, dass er sie liebte.
Sie hatte irgendwo einen Vater, der trank und eine Mutter, die mit einem anderen Mann Kinder hatte und von ihr nichts mehr wissen wollte. Seit sie ihren Freund kannte, hatte sie mit ihm in der Wohnung seiner Mutter gelebt, solange, bis er ins Gefängnis gekommen war.
Als ihre Nase verheilt war, fuhr sie nach Hause. Er brachte sie zum Zug. Bevor sie einstieg, umarmte sie ihn und gab ihm einen kleinen Kuss. Als der Zug abgefahren war, begann er zu weinen.
Am nächsten Tag rief sie ihn an. Sie war so glücklich, wieder zu Hause zu sein und wenigstens in der Nähe von ihrem Freund, aber es war etwas passiert: In der Nacht war sie eingeschlafen und jemand hatte ihr das Geld, das sie unterm Pulli versteckt hatte, gestohlen. Die ganzen 1000 Euro, die sie sich erspart hatte.
Und eine Woche später rief sie ihn wieder an: »Kannst du einen Club für mich finden, wo ich arbeiten kann, sagte sie, du weißt schon, wo sie nicht so schauen? Oder eine Agentur?«
Tagelang kochte es in ihm. »Hast du noch nicht genug?«, dachte er wütend. Er sah sie vor sich, wie sie hinauf rannte um zu duschen, wenn sie ein Zimmer gemacht hatte, wie man das nannte. Wie sie dann ganz im hintersten Winkel des Mädchentischs saß und den Blicken der Gäste nach Möglichkeit auswich. Die meisten Mädchen schüttelten das eben Erlebte ab wie nasse Hunde, wenn sie vom Zimmer kamen, zumindest äußerlich, und ein paar wenige schienen wirklich ihren Spaß mit den Gästen zu haben. Willst du dich wieder vor jedem dahergelaufenen ficken lassen, willst du wieder jedes Mal eine Stunde unter der Dusche stehen, bis du dich wieder halbwegs sauber fühlst, willst du dich wieder von einem Besoffenen zusammenschlagen lassen, weil du dich nicht in den … lässt? Natürlich konnte er einen Job für sie finden. Natürlich gab es Etablissements, die nicht so aufs Alter schauten. Im Gegenteil, es gab welche, die würden sie mit Handkuss nehmen, gerade wegen ihres Alters.
Mit der Zeit reifte ein Gedanke in ihm. Er kam sich nicht gut dabei vor, er versuchte, sich diesen Gedanken auszureden, aber der Gedanke war hartnäckig. Nach zwei Monaten rief er sie an: »Willst du immer noch kommen? Ich hätte einen Job für dich. Einen Privatkunden. Er will dich auf Urlaub mitnehmen, eine Woche. Er zahlt alle deine Ausgaben, Fahrt, Hotel, Essen und so weiter, und tausend Euro. Ich habe fünftausend verlangt, aber er will nicht mehr zahlen. Willst du es trotzdem machen? Dann erwarte ich dich am Samstag. Hast du das Fahrgeld?«
Sie borgte sich das Fahrgeld von der Mutter ihres Freundes aus. Er hatte sich ein Auto ausgeliehen und holte sie am Samstag Morgen vom Bahnhof ab.
»Ich bringe dich selber hin«, sagte er. »Es ist ein Kurhotel, zwei Stunden von hier.«
Sie war erschöpft von der langen Fahrt, hatte kaum geschlafen und zitterte. Unterwegs musste er zweimal halten, weil sie sich übergeben musste. »Entschuldige bitte«, sagte sie, »ich konnte nicht schlafen.«
Er hielt bei einer kleinen Pension etwas außerhalb des Kurorts und holte den Schlüssel für das Appartement.
»Er kommt erst heute Abend an. Schlaf dich erst einmal aus, damit du dann frisch bist.«
Dann wartete er in dem Wohnraum, während sie schlief, und starrte vor sich hin. Sie schlief sechs, sieben, acht Stunden. Er versuchte zu lesen, aber er konnte sich nicht konzentrieren. Die meiste Zeit ging er nur auf und ab. Als er drinnen das Wasser der Dusche laufen hörte, machte er Kaffee mit viel heißer Milch in der kleinen Kochnische. Als sie herauskam hatte er zwei Tassen bereit, so wie sie es für ihn immer gemacht hatte. Neben ihrer Tasse lag ein Umschlag.
»Also, es ist so«, sagte er. »Hier ist dein Geld, zähl es nach, es sind tausend Euro.«
»Und der Kunde?« fragte sie.
»Der Kunde bin ich.«
Sie starrte ihn an.
»Du hast mir gefehlt«, sagte er. »Ich hätte dir das Geld auch schenken können, aber so uneigennützig bin ich nicht. Was soll ich machen. Schau mich nicht so an, bitte.«
Er sah, dass sie Tränen in den Augen hatte.
»Jetzt denkst du sicher ganz schlecht von mir.«
»Nein«, sagte sie. »Ich denke nicht schlecht von dir. Aber ich kann nicht.«
»Warum nicht? Wenigstens bin ich kein Fremder für dich. Ich dachte, das macht es leichter.«
Sie schaute zu Boden und schüttelte den Kopf.
»Das kann ich nicht. Das geht nicht.«
Er nahm ihre Hände in die seinen: »Aber warum nicht? Ich bin wie alle die anderen. Warum denn mit mir nicht?«
Jetzt begann auch er zu weinen.
»Ich kann nicht. Du bist wie ein Vater für mich!«
Und dabei blieb es. Er brachte sie zurück, kaufte eine Fahrkarte und setzte sich mit ihr bis zur Abfahrt ins Bahnhofscafé. Er schenkte ihr – nicht die ganzen tausend Euro, aber fünfhundert. Sie wollte sie nicht nehmen, aber er nahm ihre Handtasche mit dem Reisepass und drohte ihr, damit davonzulaufen und sie alleine hier sitzen zu lassen, wenn sie das Geld nicht annähme. Dann brachte er sie zum Zug. Als der Zug abfuhr, legte sie von drinnen die Hand auf die Scheibe. Er legte die seine von außen drauf. Er machte die Augen zu und spürte, wie das Fenster unter seiner Hand wegglitt.

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