Aus der Ferne

Kurzgeschichte von Abraham Mosche Fuchs über einen jüdischen Praterstrizzi und seine Huren.  Aus dem Jiddischen übersetzt von Thomas Soxberger, erschienen im Band „Nackte Lieder“, Mandelbaum Verlag Wien.

Abraham Mosche Fuchs ist 1890 in Ozerno (Galizien) geboren worden.
Er hat den Cheder besucht, das ist die jüdischen religiöse Kleinkinderschule. Danach hat er sich alleine weitergebildet. Ab 1911 hat er Kurzgeschichten über das Leben der armen jüdischen Landbewohner veröffentlicht. 1912 ist er nach New York gegangen und von dort 1914 nach Wien. 1921-38 Wiener Korrespondent für die NewYorker jiddische Zeitung „forwertss/Jewish Daily Forward“. 1924 ist in Warschau sein wichtigstes Buch: erschienen: unter der brik.

1938 hat ihn die Gestapo verhaftet und seine Manuskripte beschlagnahmt. Er hat aber fliehen können und sich in London niedergelassen. 1950 ist er nach Israel gegangen , 1974 ist er dort gestorben.

Das Lied, das Sie zu Anfang hören, ist eine Aufnahme aus dem Jahr 1909. Die Sängerin heißt Frau Pepi Litmann. Sie ist in jiddischen Cabarets in ganz Europa und Amerika aufgetreten, und zwar fast immer in Männerkleidern, als Jeschiwe-Bocher kostümiert. Sie ist 1930 in Wien gestorben.

Abraham Mosche Fuchs: „Aus der Ferne“, deutsch von Thomas Soxberger
Frau Pepi Litmann: „Main Wabel Chaje“ (1909)
Wiener Konzertorchester: „Praterszenen“ (1903)

Die Erzählung „Aus der Ferne“ ist erschienen in:
Nackte Lieder
Jiddische Literatur aus Wien
1915-1938
zusammengestellt und übersetzt von Thomas Soxberger
Mandelbaum Verlag, Wien 2008
http://mandelbaum.at/books/764/7155

dort! Jüdisches Wien

Als die Soldaten kamen

Im Krieg, sagt Großvater, da waren wir Männer, weißt du, Junge, richtige Männer.

Im Krieg, da muss man zusammenhalten, einer für alle, alle für einen.

Im Krieg, da hilft man den Kameraden, und die Kameraden helfen dir. Da ist keiner allein, denn allein, da kann man es nicht überleben.

Im Krieg, sagt Großvater, da zeigt sich erst, wer du wirklich bist. Ob du ein Feigling bist oder tapfer. Ob du echten Mumm in den Knochen hast oder nur ein Angeber bist.

Im Krieg, sagt Großvater, da kannst du nicht lang überlegen.

Im Krieg, da heißt es parieren. Wenn befohlen wird, lauf! dann läufst du, und wenn befohlen wird, schieß! dann schießt du.

Im Krieg, da fragst du dich nicht, warum? Im Krieg, da tust du, was getan werden muss.

Im Krieg, da musst du dich nicht entscheiden.

Im Krieg, da sorgst du dich nicht um morgen. Im Krieg, da ist immer nur jetzt.

Im Krieg, sagt Großvater, da wirst du hart. Da lernst du über Berge springen und durch Wüsten schwimmen, da lernst du Dreckwasser saufen und deinen Hunger fressen. Da ziehst du mit deinem Gewehr durchs Polareis und durchs Vulkanfeuer, da steigst du über brennende Lava und tauchst unter Eisschollen durch und alles, was dich kümmert, ist, dass dein Gewehr immer trocken bleibt.

Im Krieg, da rettest du deinem Kameraden zehnmal am Tag das Leben, und dein Kamerad sagt: he, danke, Kumpel, und: ist schon in Ordnung, sagst du, und da braucht’s keine großen Worte, da genügt ein Händedruck und man versteht sich.

Im Krieg, da gibt es wahre Freundschaft.

Im Krieg, da teilt man den letzten Bissen und den letzten Schluck Wasser und die letzten paar Schuss Munition.

Im Krieg, sagt Großvater, wenn du da einmarschierst mit den anderen in eine eroberte Stadt oder in ein Dorf, da rennen die Mädchen davon und verstecken sich, und dann gucken sie hinter Fenstervorhängen heraus mit ihren sehnsüchtigen Augen oder sie kommen schüchtern hervor und bringen Obst oder Wein und lächeln verschämt und du gibst ihnen von deiner Ration, du hast Schokolade aufgehoben für sie und du fasst sie unters Kinn und schaust in ihre Augen und küsst sie, und dann gehst du weiter, denn es gibt noch viele Mädchen in den eroberten Städten und die Sehnsucht war groß all die Jahre.

Und wenn du dann heimkommst als Sieger, sagt Großvater, dann stehen da wieder die Frauen und Mädchen und warten mit Blumen auf dich und Kuchen, die sie gebacken haben und halten Plakate hoch, auf denen WILLKOMMEN steht und DAS VATERLAND DANKT EUCH und solche Sachen, und dann spielt die Musik und dann gibt es Reden vom Bürgermeister und Medaillen und Orden und Freudentränen.

Im Krieg, sagt Großvater, da bestraft man dich nicht für das Schreckliche, das du getan hast. Nur die Träume, sagt Großvater, die kommen immer und immer wieder, und dann schreist du auf in der Nacht.

Im Krieg, sagt Großvater, da stirbt man. Aber die, die gestorben sind, die erzählen nichts.


Als die Soldaten kamen, versteckten wir uns in einer Höhle draußen in der Wüste. Wir hatten einen Sack aus Ziegenleder gefüllt mit Wasser, ein paar Laibe Brot und ein paar Feigen. Das war alles. Unsere zwei Ziegen hatten wir zurückgelassen. Ich war traurig, denn Großvater sagte, dass wir sie nicht wiedersehen würden. Die Soldaten würden sie töten und essen. Mutter weinte leise, aber sie ließ das Baby an ihrer Brust saugen, damit es nicht zu schreien anfing und unser Versteck verriet. Ich wusste, dass ich nicht weinen durfte, denn ich war ja schon ein großes Mädchen und Großvater sagte, dass ich alles verstehe wie eine Erwachsene. Ich durfte ganz leise mit Großvater sprechen. Nur gelegentlich hörte er ein Geräusch von draußen und dann musste ich still sein, damit er besser horchen konnte.
„Warum werden die Soldaten unsere Ziegen töten?“ fragte ich Großvater. „Mögen sie keine Milch?“
„Ach, die mögen schon Milch, aber Fleisch mögen sie lieber. Und vor allem wollen sie nicht, dass die Soldaten von König Babak die Ziegen essen.“
„Ist das nicht unser König, der König Babak?“
„So sagt man, ja.“
„Hätten wir da nicht die Ziegen mitnehmen sollen, um sie für die Soldaten von König Babak zu retten?“
„Die Ziegen hätten uns verraten. Und es ist gleich, ob die Soldaten von König Babak oder die Soldaten von König Ubuk sie essen.“
„Aber wenn König Ubuk den Krieg gewinnt, werden uns seine Soldaten dann nicht töten?“
„Nein. Wenn der Krieg vorbei ist, werden wir Tribut an König Ubuk zahlen müssen statt an König Babak. Das ist der ganze Unterschied.“
„Aber ist Babak nicht unser rechtmäßiger König und der Vater des Landes? Ist er nicht der Vater von uns allen?“
„Das sagen die Priester, ja. Aber vor ihm war Erek unser König und der Vater des Landes, und wir mussten im Tempel für seine Gesundheit beten. Dann hatten Babak und Erek Streit, weil Erek die Ehre von Babak besudelt hatte, und Babaks Armee besiegte Erek und Erek wurde getötet und Babak eroberte sein Land.“
„Hat nicht auch König Ubuk König Babaks Ehre besudelt?“
„So heißt es, ja.“
„War dann nicht Babak im Recht, für seine Ehre zu kämpfen?“
„Könige tun so etwas, ja.“
„Kämpfst du nicht um deine Ehre, Großvater?“
„Wir Bauern kämpfen nicht um unsere Ehre. Wenn der Priester mich ein faules Schwein nennt, weil ich ihm nicht genug Korn zum Speicher bringe, dann kann ich meine Ehre nicht verteidigen. Die Priester würden mich zu Tode peitschen lassen. Aber bei Königen ist das etwas anderes. Könige müssen lernen, ihre Ehre zu verteidigen.“
„Warum die Könige und die Bauern nicht?“
„Ach, wenn ein König die Ehre von einem anderen König besudelt, dann ruft der seine Armee zusammen und kämpft mit dem anderen König. Manchmal verliert er sein Leben in der Schlacht. Und manchmal wird der andere König getötet und der Sieger nimmt sich das Land des Verlierers und fügt es seinem eigenen Reich hinzu. Der Verlierer erfährt nicht, dass man auch sterben kann, wenn man seine Ehre verteidigt, weil er nämlich tot ist. Und der Sieger lernt, dass es sich lohnt, seine Ehre zu verteidigen. Als mein Großvater jung war, gab es in diesem Tal dreißig kleine Königreiche. Jetzt gibt es fünf große.“
„Weil die Könige Streit miteinander hatten? Weil ihre Ehre befleckt worden war?“
„Es war immer irgendwas von der Art.“
„Und war es immer schon so? Hat es immer schon Kriege gegeben, damit die Königreiche größer und größer werden können?“
„Ich weiß es nicht“, sagte Großvater. „Mein Großvater hat gesagt, dass einmal eine Zeit war, wo es keine Könige gegeben hat, nur Bauern. Er hat gesagt, dass sie in Dörfern zusammen gelebt haben. Und dass sie von Krieg nichts gewusst haben. Ich kann mir vorstellen, dass es wahr ist, was Großvater gesagt hat. Warum sollten sie mit dem Nachbardorf kämpfen? Warum sollten sie ihnen ihr Land wegnehmen wollen? Ein Bauer kann nur so und so viel Land bebauen. Er hat keine Verwendung für mehr Land, als er mit seiner Familie beackern kann. Nun ja, vielleicht hatten sie viele Kinder und nach einiger Zeit gab es mehr Familien, die Land brauchten. Würden sie dann einen Kampf beginnen, um jemand anderem das Land wegzunehmen? Ich glaube nicht. Ich glaube, sie würden lieber das Land, das hatten, aufteilen, als einen Kampf zu beginnen und zu riskieren getötet zu werden. Und sogar, wenn sie einen Kampf beginnen würden, dann würden sie aufhören, wenn sie genug Land erobert hätten. Ihrer Gier wäre immer eine Schranke gesetzt, weil sie das Land selbst bebauen mussten. Aber die Gier eines Königs ist ohne Ende.“
„Ist denn ein König ein anderes Wesen als ein Bauer?“ sagte ich. „Ist es vielleicht eine andere Tierart, so wie Ziegen keine Schafe sind?“
„Ich glaube nicht“, sagte Großvater. „Wenn du den Sohn eines Bauern nimmst und ihn als einen König aufziehst, dann wird er alle die Dinge tun, die Könige tun.“
„Warum sind dann Könige anders?“
„Weil die Art, wie sie ihren Lebensunterhalt verdienen, eine andere ist. Mein Großvater sagte, dass es früher, in der alten Zeit, außer Bauern auch noch Jäger gegeben hat. Die haben auch nicht um Land gekämpft gegen einander. Jede Gruppe hatte ihr Jagdgebiet, und sie hatten keine Verwendung für größere Jagdgründe. Aber eines Tages wurde das Wetter trockener und die Wälder wurden kleiner und die Tiere in den Wäldern wurden weniger. Und die Jäger entdeckten ein neues Wild. Sie entdeckten die Speicher der Bauern, die gefüllt waren mit Saatgut für das nächste Jahr, und ihre Ställe mit Ziegen und Schafen und Schweinen. Sie stahlen von den Bauern und wenn die Bauern sich wehrten, töteten sie sie. Die Jäger konnten besser mit Waffen umgehen als die Bauern, sagte mein Großvater, weil sie sie jeden Tag benutzten. Und bald entdeckten sie, dass es für sie besser war, nicht alle Bauern umzubringen und ihnen nicht alles wegzunehmen. Denn wenn die Bauern überlebten und etwas Saatgut und etwas Futter übrig behielten, dann pflanzten sie wieder Korn und zogen wieder Tiere auf und im nächsten Jahr konnte man sie wieder ausrauben. Und ein paar schlaue Häuptlinge schlossen Verträge ab mit den Bauern und sagten ihnen: Wenn ihr mir jedes Jahr so und so viel Korn und so und so viel Vieh als Tribut gebt, dann beschütze ich euch gegen andere Räuber. So wurden die Jäger zu Kriegern und ihre Häuptlinge zu Königen.
Und für einen König ist Landbesitz ein anderes Ding als für einen Bauern. Weil ein König nämlich nicht selber arbeitet auf seinem Land. Er hat Bauern, die arbeiten und ihm Korn und Butter und Fleisch und Wolle und andere Dinge abliefern. Und der König isst und gebraucht das alles nicht selber. Er ernährt und kleidet damit seine Soldaten und Priester, die Schmiede, die ihm die Schwerter machen und die Bogner, die Pfeil und Bogen machen für die Soldaten und die Baumeister und Maurer, die Paläste und Tempel bauen. Und das alles gebraucht er, um mehr Land zu erobern, damit er mehr Tribut bekommt, damit er noch mehr Soldaten beschäftigen kann, die ihm noch mehr Land erobern und so weiter.“
„Aber wenn ein König nun einmal findet, dass er genug Land hat und genug Bauern, die für ihn und seine Soldaten arbeiten?“
„Dann muss er trotzdem fürchten, dass ein anderer König, der mehr Bauern und mehr Soldaten hat, ihm sein Land wegnimmt. Darum darf er nie aufhören, sein Reich und seine Armee zu vergrößern.“
„Also würde es keine Kriege geben, wenn es keine Könige gäbe?“ fragte ich.
„Wenn es keine Leute gäbe, die von anderer Leute Arbeit leben, dann würde das Kämpfen wenigstens nicht so endlos sein wie es jetzt ist. Vielleicht würde es keine Paläste geben und die Tempel wären kleiner und es würde nicht so viele Künstler geben, die so wunderbaren Schmuck und so herrliche Statuen machen, weil niemand sich so etwas leisten könnte. Die Teppiche wäre weniger bunt, aber dafür hätte jeder einen um darauf zu schlafen statt auf dem nackten Boden. Vielleicht würde es hie und da Streit und Kampf geben, aber die würden beendet werden.“
„Also wird das Kämpfen nie mehr aufhören?“ fragte ich Großvater.
„Vielleicht nach vielen tausend Jahren, wenn die ganze Welt ein einziges Reich geworden ist.“
„Aber können wir nicht so leben wie früher, als es noch keine Könige gab?“
„Ich glaube nicht“, sagte Großvater, „wie könnte das sein? Die Soldaten der Könige haben Schwerter und Bogen und Pfeile und was haben wir?“
„Aber wenn alle Bauern auf der Welt sich einigen würden, keine Könige und Soldaten mehr zu ernähren?“
„Das ist nicht möglich“, sagte Großvater. „Wer würde Boten zu ihnen allen schicken?“
Als die Soldaten abgezogen waren, war das Dorf leer. Alles Vieh war getötet oder weggenommen worden, alles Korn war aus den Speichern geholt und verbrannt worden. Sogar unsere Hacken und Sicheln waren fort. Großvater zeigte uns, wie wir im Fluss Fische fangen konnten, und welche wilden Kräuter wir kochen konnten, und irgendwie kamen wir durch die Trockenzeit. Als der Regen kam, wuchs etwas Korn auf den Feldern aus Samen, die bei der Ernte zu Boden gefallen waren, und wir buken keinen einzigen Laib Brot, sondern hoben alles Korn für die nächste Aussaat auf. Schritt für Schritt erweckten wir die Felder wieder zum Leben. Mutter starb und dann starb Großvater auch und mein kleiner Bruder heiratete ein Mädchen aus dem Nachbardorf und sie bekamen ein Kind.
Und eines Tages kamen die Soldaten.

Playlist:

Foot Village – Lovers with Iraqis – BY-NC-ND
Martin Auer – Im Krieg – BY-NC-SA
Sound: The Encounter – Song from South Iraq – BY-NC-ND
Martin Auer – Als die Soldaten kamen – BY-NC-SA
Rebecca Foon – Sunsets and Rockers – BY-NC-ND
Martin Auer – Angst – BY-NC-SA
Martin Auer – Noch einmal Angst – BY-NC-SA
A Magnifique Bande dos Homes sen Medo – Zappagnifique – BY-NC-ND
Martin Auer – Frieden beginnt bei dir selbst – BY-NC-SA
Lonnie Donegan – The Battle of New Orleans –
Martin Auer – Geschichte von einem guten König – BY-NC-SA
Debo Band – Addis Ababa Bete AlemayehuEshete – BY-NC-ND
Martin Auer – Der Sklave – BY-NC-SA
Kevin McLeod – Signation – BY

Sie kriegen uns nicht – 30 Haiku

30 Haiku. 30 Gedichte bestehend aus nicht mehr als siebzehn Silben in drei Zeilen. Und jedes von ihnen will eine Geschichte erzählen.

Wenn Sie in Wien sind, ein Smartphone besitzen und gerne spazieren gehen, dann können Sie einen Haiku-Spaziergang im Liechtensteinpark unternehmen. Stecken Sie die Kopfhörer an und schalten Sie das GPS ein. An verschiedenen Punkten im Park werden Sie dann jeweils ein Haiku finden: http://geopoetry.kwikk.info/zweig/

Playlist:

Trans Atlantic Rage & Jared C. Balogh – Parallel Souls – BY-NC-SA
Jared C. Balogh – Flight of a Young Bird – BY-NC-SA
The Good Lawdz – Ridin‘ Dirty but Still I Shine so Clean – BY-SA
Paul Pitman – La Puerta del Vino – Public Domain
Das Sombreros & André D – The Vicars Tickle – BY-NC-SA
Cian Nugent – Hire Purchase – BY-NC-ND
Advent Chamber Orchestra – Prelude, La Tromba und Air de Diable von Francois Couperin – BY-SA
Sergi Boal – Fez – BY-NC-ND
Nicolas Chientaroli Trio – Solrac y La Reflexión, – BY-NC-ND
Albert Glasser – Auction – BY-NC-SA
Rebecca Foon – Golden Alley – BY-NC-ND
Kevin McLeod – Signation – BY

Ohne Bewilligung (Teil 2)

Diese Erzählungvon Leopold Kompert  handelt von den alltäglichen bürokratischen Hürden und Schikanen, mit denen die jüdische Bevölkerung im Habsburgerreich fertig werden musste. So war 1726 unter Kaiser Karl VI. festgelegt worden, dass in Böhmen nicht mehr als 8.451, in Mähren nicht mehr als 5.106 und in Schlesien nicht mehr als 119 jüdische Familien leben durften. Ein Jude durfte nur heiraten, wenn er im Besitz einer Familiennummer war. Starb der Inhaber der Nummer, erbte sie der älteste Sohn. Die Familiennummern wurden von den Kreisbehörden sorgfältig im Familiantenbuch aufgezeichnet. Starb ein Familiant ohne Söhne, dann wurde die Familiennummer frei und ein Jude, der kein Familiant war, konnte sie kaufen.
Jaikew Lederer, ein Hausierer, der mit seinen Waren auf die Dörfer geht, ist der viertgeborene Sohn seines Vaters. Er hat nicht das Recht, eine Familie zu gründen, er ist kein „Familiant“. Er tut es aber trotzdem und heiratet seine langjährige Braut Resel. Heimlich, auf dem Dorf, mit dem Segen eines armen Landrabbiners. Eines Tages erhalten Jaikew und Resel wegen ihres unehelichen Kindes eine Vorladung zum Bürgermeister. Geängstigt holen sie sich Rat bei Reb Lippmann Goldberger, der wegen seiner vielen Rechtshändel von allen nur „der Advokat“ genannt wird…

Playlist:

Guignol Band – Mikyoner – BY-NC-ND
Josef Kompert – Ohne Bewilligung – PD
Zawel Kwartin – Kol Hashem – PD
Tres Tristes Tangos – Een Laastse Liedje – BY-NC-SA
Unbekannte Musiker aus London
Zydepunks – Track No 6 – BY-NC-SA
Guignol Band – Bad Day at the UN – BY-NC-ND
Kevin McLeod – Signation – BY

dort! Jüdisches Wien

Ohne Bewilligung (Teil 1)

Heute lese ich den ersten Teil einer Erzählung von Leopold Kompert. Sie heißt „Ohne Bewilligung“.
Lepold Kompert war einer der ersten deutschsprachigen Schriftsteller, die das jüdische Ghetto zum Thema gemacht haben. Er ist 1822 in Münchengrätz (Mnichovo Hradiště) in Böhmen geboren und dort in der Judengasse aufgewachsen. Dort kann man sich auch den Ort der Handlung dieser Erzählung vorstellen. Kompert hat sie 1847/48 geschrieben, und sie handelt nicht von schrecklichen Pogromen oder grausamer Verfolgung, sondern von den alltäglichen bürokratischen Hürden und Schikanen, mit denen die jüdische Bevölkerung im Habsburgerreich leben musste. So war 1726 unter Kaiser Karl VI. festgelegt worden, dass in Böhmen nicht mehr als 8.451, in Mähren nicht mehr als 5.106 und in Schlesien nicht mehr als 119 jüdische Familien leben durften. Ein Jude durfte nur heiraten, wenn er im Besitz einer Familiennummer war. Starb der Inhaber der Nummer, erbte sie der älteste Sohn. Die Familiennummern wurden von den Kreisbehörden sorgfältig im Familiantenbuch aufgezeichnet. Starb ein Familiant ohne Söhne, dann wurde die Familiennummer frei und ein Jude, der kein Familiant war, konnte sie kaufen.

Josef Solinski – Rumänische Phantasie – PD
Josef Kompert – Ohne Bewilligung – PD
Mishka Ziganoff – Noch a bissl – PD
Abe Elenkrieg and his Orchestra – Patschtanz – PD
Mishka Ziganoff – Doina – PD
Kevin McLeod – Signation – B

Münchengrätz

dort! Jüdisches Wien

Der Tag des Glücks

Waren Sie schon mal glücklich?
Ich war schon mal glücklich.
Echt!
Einmal, im Sommer.
Oder war es – nein warten Sie –
ja, es kann noch Sommer gewesen sein,
vielleicht Anfang Herbst.
Aber im Herbst bin ich mehr melancholisch,
Sie wissen schon, wenn die Blätter fallen
und alles zu Ende geht
und es trüb und diesig ist
und man immer nasse Füße hat
und an den Tod denken muss.
Wenn ich an den Tod denke, bin ich nicht glücklich.
Nein, ich denke nicht gern an den Tod,
aber im Herbst gehört es gewissermaßen dazu
und dann ist ja dann auch dieser Feiertag,
da gehe ich auch auf den Friedhof.
Aber glücklich bin ich dort nicht.
Die meisten sind ja eher
im Frühling glücklich,
Sie wissen schon, wenn alles erblüht
neu beginnt und sprießt
und die Vögel wieder zu singen anfangen.
Aber mich macht das Gezwitscher doch mehr nervös
muss ich sagen, früh am Morgen vor allem
da ist oft der Lärm
gar nicht auszuhalten.
Viele verlieben sich auch gern im Frühling
nicht wahr
und dann sind sie glücklich, für eine Weile jedenfalls.
Ich ja weniger,
weil ich mich auch nicht so gern verliebe.
Ich hab meine Gründe, ich könnte Ihnen
leicht einen Vortrag darüber halten.
Aber einmal eben, ich glaube, es war 83, kann auch 84 gewesen sein,
da war ich – wie gesagt – einmal glücklich.
Ein Dienstag war es, das weiß ich,
weil ich noch gedacht habe: Dienstag
ist doch eigentlich nicht der typische Tag
um glücklich zu sein.
Aber es war ein Dienstag.
Im Spätsommer, wie gesagt, oder im Frühherbst,
jedenfalls war es heiß und ich habe geschwitzt.
Ich erinnere mich genau, dass ich geschwitzt habe,
ziemlich stark sogar,
mit Schweißflecken unter den Achseln.
Sonst belastet mich sowas ja eher,
man fragt sich dann doch
ob einen die Leute nicht ansehn deswegen,
aber in diesem Moment, sag ich ihnen,
war mir das egal. In diesem Moment
hab ich mich darüber hinweggesetzt
und mir gedacht: Was kümmern mich Schweißflecken,
solange ich glücklich bin!
Wie gesagt, 83 war das, oder 84
warten Sie, jetzt fällt es mir wieder ein,
ich hab es doch aufgeschrieben,
in mein Tagebuch, viel steht ja nicht drin,
aber das war doch interessant genug um es aufzuschreiben.
Schauen Sie, da steht es ja:
28. August 1984:
Heute um 16 Uhr dreißig, kurz nach Arbeitsschluss
auf dem Heimweg vom Büro
war ich für ca. 1 Minute und 30 Sekunden
ohne besonderen Anlass
vollkommen glücklich.

Playlist:
The Chapin Sisters – Don‘t Love You – BY-NC-ND
Happy Six – Siam Soo – PD
Martin Auer – Waren Sie schon mal glücklich? – BY-NC-SA
The Bomb Busters – Good to be Alone – BY-NC-SA
Martin Auer – In diesen herrlichen Tagen – BY-NC-SA
The Kidney Brothers – Wolf – BY-NC-ND
Martin Auer – Wenn die Engel schlafen gehen – BY-NC-SA
Samm Bennett – Edge of Town – BY-NC-ND
Martin Auer – Sportin‘ Life Blues – BY-NC-SA
HappyTraum – Sportin‘ Life Blues –
Martin Auer – Singen leise Wasser – BY-NC-SA
Soni Ventorum – Alegretto aus dem Bläserquintett von Franz
Danzi – BY-SA
Martin Auer – Das Kind auf der Wolke – BY-NC-SA
Brahim Fribgane – Live Improvisation for Oud – BY-NC-ND
Martin Auer – Wann i so alt bin wia r a Zwerg – BY-NC-SA
Samm Bennett – Jaka Jaka Bean – BY-NC-ND
Kevin McLeod – Signation – BY

So voll Hunger nach Leben, dass ich mich umbringen könnte

 

„Ficken“ brabbeln die Lippen des alten Mannes,
als ihm die Schwester die Bettpfanne unterschiebt.

„Ficken“, lallt die Zunge des alten Mannes,
als die Ärztin mit der Thrombosespritze hereinkommt.

„Ficken“, krächzt der Kehlkopf des alten Mannes,
als die Stimme der glücklichen Hausfrau aus dem Fernseher tönt.

„Ficken“, rasselt die Luftröhre des alten Mannes,
als er aus dem Zimmer geschoben wird.

„Die geben nie auf“, sagt die Schwester zur Hilfsschwester auf der Station,
„bis zum Schluss nicht!“

Playlist:
Mr. and Mrs Smith – Last Night Downtown – BY-NC-SA
Martin Auer – Ficken – BY-NC-SA
Steve Gunn – Old Strange – BY-NC-ND
Martin Auer – So voll Hunger nach Leben – BY-NC-SA
Blanket Music – I‘m Fat – BY-NC
Mr. and Mrs Smith – Crashed – BY-NC-SA
Underscore Orkestra – Dobur Vecher – BY-NC-SA
Latché Swing – Songe d‘ Automne – BY-NC-SA
Michael Chapman and the Woodpiles – Deportee – BY-NC
Martin Auer – Der Türsteher – BY-NC-SA
Cian Nugent – Rathsallagh Rose – BY-NC-ND
Kevin McLeod – Signation – BY

So voll Hunger nach Leben, dass ich mich umbringen könnte
Ich kam aus dem Spital und mein Vater hatte irr geredet, so seltsam, man merkte es zuerst gar nicht, denn er redete in Tonfällen, die wir kannten von ihm, seine Familie, wir saßen alle um ihn und lachten, wenn er Volvic sagte statt Münze, Volvic, es ging ihm nicht aus dem Kopf, dieser seltsame Name für ein Mineralwasser, es tat ihm weh, sagte er, dieses Wort, meine Schwester hatte die Plastikflasche aus London mitgebracht, sie füllte sie immer an der Wasserleitung, da war kein französisches Wasser drin, aber dieser Name, Volvic, er schmerzte meinen Vater, wir saßen um ihn, im Fernsehraum der Station, sein Bettnachbar wollte schlafen, so hatte sich mein Vater aus dem Bett geschleppt, in den Fernsehraum, ach, nicht nur aus Höflichkeit, er wollte doch nicht mehr bettlägerig sein, er sollte doch morgen entlassen werden, mit dem Herzschrittmacher in seiner Brust, gerüstet nun für neue Jahre, generalüberholt sozusagen, mit geputzten Herzkranzgefäßen, und Volvic, und er müsste nun das streichen vom Internet, sagte er, was denn, vom Internet, sagte er, die Dateien, die müsste er streichen, löschen, was er angemerkt hatte, und warum, sagte er, geht es mir so schlecht, warum fühl ich mich nicht gut, ich versteh das nicht, hab ich das nötig, dieses Volvic, dass ich mich nicht gut fühl, und er sagte das in dem Ton, in dem er immer seine Witze macht, und dann hustete er, ach er hustet ja schon so lang, er hat sich die Lunge weggeraucht in seinen ersten vierzig Jahren, und die zweiten vierzig hat er gehustet, und dann die Schmerzen im Rücken, das ist eine Scheiße, sagte er, diese Schmerzen im Rücken, hab ich das nötig, der Knochenschwund ist das, die Osteoporose, zwei Wirbel sind praktisch völlig weg, zerrieben zu Sand, wenn einer vierzig Jahre nur im Auto sitzt, nicht mehr geht, weil das Knie kaputt ist, weil der Fuß lädiert ist, dann schwinden die Muskeln, dann schwinden die Knochen, ach, und man merkt es nicht, denn man fährt ja die schnellen Autos, die sechzehn, die zwanzig Liter Benzin versaufen auf 100 Kilometer, ach, und nun ist es vielleicht vorbei, nun ist man nicht mehr der älteste aktive Motorjournalist auf diesem Planeten, nur mehr alt ist man jetzt, und das will er nicht, nur mehr alt sein, nein, er weigert sich, er will raus aus diesem Spital, hat zu tun, ohne ihn wird das Blatt nicht fertig, und Volvic, und vorher, bevor die anderen gekommen waren, war ich allein mit ihm, und die Schmerzen, und ich musste ihm die wärmende Salbe auf den Rücken schmieren, er zog sich das Nachthemd hoch, dieser faltige, fette, abgemagerte Hintern, das war mein Vater, der Mächtige, der Garant, dass mir nichts passieren kann, mir, dem fünfzigjährigen Sohn, ich musste dieses faltige, fette, abgemagerte Fleisch anfassen und die wärmende Salbe einreiben, dieser riesige runde Kopf mit dem weißen Bart, dieser faltige Hals, dieser mächtige Bauch, diese dünnen Beine, diese gelben Sohlen mit der rissigen ausgetrockneten Haut, das ist mein Vater, der Große, vor dem ich mich oft geschämt habe, weil ich zu weichlich war, zu mädchenhaft zart, ja, schau mich an, mich mit dem Stiernacken, mit der Glatze, mit dem Bauch, ich war nur ein Bürschchen, ein zartes, hab mich beim Fußball vor dem Ball gefürchtet, und dann, eines Tages, habe ich ihn an mich gedrückt, im Spaß, ihn, den alten Pfadfinder, der sich mit zwei gebrochenen Beinen den Berg hinuntergeschleppt hat, ihn, den Flüchtling vor den Judenmördern, ihn, den Schiffskoch, der fünfhundert Mal Speck mit Eiern gebraten hat, ihn den Soldaten mit dem breitkrempigen Hut der australischen Armee, ihn, den rasenden Reporter auf dem Motorrad, ihn, den Reformkommunisten, der gegen die Stalinisten aufmuckte, ihn, den Taxifahrer, Fernsehreporter, Kolumnisten, habe ihn an mich gedrückt, im Spaß, und ihm fast die Rippen gebrochen, ihm den Atem genommen, dass er auf dem Boden auf alle Viere gehen musste um wieder zu Atem, zu sich zu kommen, mein Gott, wie lange ist das her, und doch war er immer für mich der Starke geblieben, der Unüberwindliche, der Patriarch, und nun erst sah ich ihn leiden, nun erst sah ich ihn schwach, unsinniges Zeug daher brabbelnd, und wir, seine Familie, saßen um ihn und lauschten und lachten und konnten gar nicht begreifen, dass er nicht scherzte.
Und am Abend ließ ich mir ein Mädchen kommen, Katalog im Internet, hundertzwanzig Euro, ach, der schlanke Leib und der runde Hintern, ach die kleinen Brüstchen, die langen Beine, das braune Haar, und ich telefonierte und das Mädchen am anderen Ende sagte, es dauert noch, sie ist grade unterwegs, aber wenn sie fertig ist, ruf ich dich an, und als sie zurückrief, sagte sie, sie fährt noch nach Hause, duschen, in vierzig Minuten ist sie bei dir, und ich sagte, Mensch, denk dir doch etwas aus, so redet man nicht, wer will denn wissen, dass ein Mädel direkt von einem anderen Job kommt, und als sie dann da war, war sie eine Polin, Carmen, wer hatte ihr den Namen gegeben, sie lachte und zitterte und sagte, sie sei erschöpft, ein schwieriger Tag, ach, das schöne Mädel, und ich fragte warum? die Mama, sagte sie, im Spital, mit Kanzer, und dann schlüpfte sie aus dem Pullover und lächelte, und dann aus der Hose, und fragte, die Strümpfe auch ausziehen? und ich sagte ja, und als wir beide nackt waren, wollte sie ihr Bild im Internet sehen, denn sie wusste noch nicht, wie es aussah, und ich ging mit ihr ins andere Zimmer und zeigte es ihr, es war noch auf dem Bildschirm, ach, der schlanke Leib und der runde Hintern, die kleinen Brüstchen, die langen Beine, nur das Gesicht sah man nicht, und sie fragte mich: warum mich? da sind so viele Schöne mit blonden Haaren und großen Busen, und ich sagte, ich mag aber lieber die kleinen, und küsste die Knospen, und dann küsste sie mich auf den Mund und wir gingen zurück ins Zimmer und legten uns auf das Bett und küssten und hielten uns, und ich dachte an ihre Mama im Spital mit Kanzer, und sagte, mein Vater ist auch im Spital, das Herz, und so redeten wir, und hielten uns und sie küsste mich, aber Französisch nur mit Gummi, willst du das jetzt? und ich nickte, aber sag mir noch, wie du wirklich heißt, aber nur, wenn du willst, und sie schüttelte den Kopf und ich sagte, gut, dann bist du Carmen und hielt sie und küsste sie, aber dann sagte sie, es fängt auch mit K an, und ich sagte Katarzyna? nein, sagte sie, und lachte, wieso kennst du polnische Namen, ich war schon öfter da, sagte ich, und wo? in Wrocław und Poznan und Kraków und Warszawa, ich bin aus Poznan, sagte sie, aber am schönsten ist Kraków, ja, sagte ich, und hielt sie und küsste sie, und: mein Name ist Kinga sagte sie, das ist ein seltener Name, auf Deutsch ist es Kunigunde, Kinga, sagte ich, Kinga und hielt sie ganz fest, und dann machte sie mir Französisch mit Gummi, und als ich sie hinlegte und zwischen ihren Schenkeln kniete und in sie eindrang, da wich sie zurück, sie lächelte und wich zurück und ich sagte, du willst mich nicht in dir und sie sagte, ich habe Schmerzen, vielleicht kommt meine Menstruation, ich weiß das nie, das ist bei mir so, und ich sagte, lass nur, ich rufe nächste Woche wieder an, dann kommst du zu mir und dann werden wir ficken, und ich hielt sie fest und dann holte ich noch eine Decke für ihre kalten Füße und wir hielten uns und sie fragte mich, ob ich auch schwarze Mädchen mochte, und ich sagte, ich hatte einmal eine Freundin, aber das ist lange her, und? sagte sie, sie war nett, sagte ich, und wir waren jung, das ist alles, ich habe auch einen schwarzen Freund, sagte sie, er ist aus Nigeria und kann gut kochen, ja, sagte ich, in Westafrika ist die Küche besser, ich war in Kenia, und dort gibt es nur Mais und Kohl, weiß dein Freund, welchen Job du machst? ja, aber nur so ungefähr, verstehe, sagte ich, und als sie mich anfasste, sagte ich, nein, du musst nichts mehr tun, wir machen es nächste Woche, gut, sagte sie, nächste Woche, und dann fahre ich zu meiner Mutter und dann läutete sowieso ihr Handy, die Agentur, die Stunde war um, und ich brachte sie zur Tür und sagte, es ist schön mit dir, und dann ging ich hinauf und rief wieder die Agentur an und ließ mir Carla schicken, die kam aus Rumänien.

Der Türsteher
Es war vor nicht allzu langer Zeit ein Mann, der war Türsteher in einem Bordell. Das Bordell war, glaube ich in Stuttgart, es kann auch in Duisburg gewesen sein. Der Türsteher war einmal Tiefbauingenieur gewesen. Aber dann hatte er seine Frau verloren, zu saufen begonnen und seinen Job geschmissen, wie das manchmal so geht. Als Tiefbauingenieur war er viel auf Reisen gewesen, seine Firma baute Untergrundbahnen in Osteuropa, Eisenbahntunnel in Russland, künstliche Inseln in Arabien, Containerhäfen in Indien und ich weiß nicht, was noch alles. Da er ein paar Fremdsprachen konnte und immer gern noch eine neue Sprache dazu lernte, schickte seine Firma mit Vorliebe ihn ins Ausland. Und das hatte eben Folgen für seine Ehe. Ein Jahr oder so nach der Scheidung stürzte in Kenia eine Brücke ein und ein einheimischer Bauarbeiter wurde erschlagen. Er war nicht wirklich verantwortlich für den Unfall, die örtliche Vertragsfirma hatte an den Sicherheitsvorkehrungen gespart, aber er fühlte sich schuldig, weil er den Vertrag bei einem Besäufnis mit den Direktoren unterschrieben hatte und nicht genug Erkundigungen über seine Partner eingezogen hatte. Also kündigte er seinen Job und beschloss Schriftsteller zu werden. Er dachte, er hätte doch genug erlebt in der Welt. Aber über ein paar Notizen und Entwürfe kam er nicht hinaus, es war einfach nur ein Vorwand fürs Nichtstun und Saufen. Seine Ersparnisse wurden weniger, und als er auf tausend Euro herunter war, ging er in eine Bar, zahlte allen Mädchen Champagner, unterhielt sich mit jeder in ihrer Sprache und ging schließlich mit einer aufs Zimmer. Als er wieder herunter kam, fragte ihn die Frau hinter der Bar, ob er noch was trinken wolle. Nein, sagte er, das war mein letztes Geld, ich geh mich jetzt aufhängen. Die Frau hinter der Bar lachte und sagte: »Na komm, ich geb dir ein Bier aus«, und dann unterhielten sie sich auf Polnisch. Sie war die Besitzerin des Etablissements und aus Polen, und so gab eins das andere. Er erzählte ihr seine Geschichte und sie bot ihm den Job als Türsteher an, weil er alle Sprachen konnte. Sie zahlte ihm zwar nicht viel, 5 Euro in der Stunde, aber das regelmäßig, und er konnte in einem der Zimmer schlafen, wenn die Bar geschlossen hatte. Abends musste er in einer Phantasieuniform vor der Tür stehen, eigentlich war es nur ein langer roter Mantel mit goldenen Achselklappen, der ihm ein bisschen zu groß war, und eine rote Schildkappe mit goldener Schnur. Wenn Männer vorbeigingen, musste er sie ansprechen: »Guten Abend, haben Sie nicht Lust auf ein bisschen Spaß, kühles Bier, schöne Mädchen, anschauen kostet nichts!« Und natürlich musste er ein geheimes Signal geben, wenn jemand ins Lokal wollte, der nach Polizei aussah. Dann verschwanden die Mädchen nach oben in ihre Privatzimmer, bis auf die zwei, drei, die legal hier arbeiteten.
Zwischendurch wurde er auf Besorgungen geschickt, Kebabs holen für die Mädchen oder Pizza, aber nie um Zigaretten, denn die Chefin hatte geschmuggelte Zigaretten, die sie den Mädchen zum Selbstkostenpreis abgab. Am Tag half er der Chefin die Getränkelieferungen in die Kühlbox schlichten oder sie schickte ihn in den Beate-Uhse-Laden, wo er Kondome in Tausender-Packungen holte. Die meisten Mädchen wohnten auch in dem Bordell, sie schliefen aber nicht in den Gästezimmern, sie hatten eigene Zimmer, wo sie zu dritt oder zu viert hausten. Die Mädchen lässt du ab jetzt in Ruhe, hatte die Chefin gesagt, kein Anbandeln! Als Liebhaber kam er für die Mädchen sowieso nicht in Frage, dafür war er schon zu alt. Aber sie freundeten sich schnell mit ihm an, die, die länger blieben, jedenfalls. Polnisch und Russisch sprach er fast perfekt, und auf Polnisch konnte er sich auch mit den Ukrainerinnen, Weißrussinnen und Slowakinnen verständigen, bei den Bulgarinnen und Mazedonierinnen konnte er sich mit Russisch helfen. Ein paar Brocken konnte er sowieso auch von jeder dieser Sprachen. Seine Rumänischkenntnisse ergänzte er mit Italienisch, aber die meisten Rumäninnen sprachen recht gut Englisch und Spanisch, weil sie zu Hause die Hollywoodfilme und Telenovelas im Fernsehen in der Originalsprache sahen. Sein Türkisch brauchte er nicht wirklich, denn die türkischen Mädchen, die in die Bar kamen, waren in Deutschland geboren. Mit den Nigerianerinnen sprach er Englisch und mit den Mädchen aus Ghana Französisch. Manche, die erst frisch angekommen waren und noch gar kein Deutsch konnten, baten ihn, ihnen beim Einkaufen zu helfen, wenn sie mit dem ersten verdienten Geld schicke Unterwäsche für die Arbeit und coole Handys kauften. Sie schickten ihn so oft um Telefonwertkarten, dass er sie auf Vorrat kaufte, um immer welche bei der Hand zu haben, denn die Mädchen telefonierten ständig, mit ihrem Freund zu Hause oder auch mit der Mutter – nicht wenige hatten ein Baby, das von Mutter oder Tante oder Großmutter betreut wurde – oder sie telefonierten mit Freundinnen, die in anderen Etablissements oder in anderen Städten und anderen Ländern arbeiteten. Einige Mädchen brachte er zum Zahnarzt oder zum Gynäkologen, wenn sie Probleme hatten und er zeigte ihnen, wie sie sicher Geld nach Hause schicken konnten, ohne die horrenden Gebühren für Western Union zu bezahlen.
Bei dem freundschaftlichen Umgang mit den jungen Mädchen erholte er sich langsam von seinem Leid. Wenn er mit ansah, was manche von ihnen durchmachten, kam ihm sein Selbstmitleid recht lächerlich vor. Er sparte ein bisschen und mietete sich wieder eine eigene kleine Wohnung. Er kaufte auch ein paar billige Möbel und manchmal ging er dann wirklich in den frühen Morgenstunden in seine eigene Wohnung, wenn er einmal nicht im Geruch von Rauch und Schweiß und Desinfektionsspray schlafen wollte. Aber eigentlich blieb er gern in der Nähe der Mädchen. Er fühlte sich aufgehoben in dieser kleinen Welt.
In einer Nacht passierte es, dass ein betrunkener Gast einem Mädchen das Nasenbein zerschlug. Der Türsteher war gerade draußen, als er von drinnen die Alarmglocke hörte. Jedes Zimmer hatte einen Klingelknopf für den Fall, dass ein Gast brutal wurde oder durchdrehte. Er riss die Tür auf und rannte durch die Bar nach hinten in den Gang, der zu den Zimmern führte, aber als er zu dem Zimmer kam, über dessen Tür die rote Lampe blinkte, war die Chefin – sie war eine ziemlich massige Frau – schon dabei, den Gast durch die Hintertür hinauszubugsieren. Das Mädchen kauerte auf dem Bett, hielt sich die Hände vors Gesicht und weinte. Unter ihren Händen rann Blut heraus. Sie war eine Bulgarin, die er sehr mochte. Nach einem Job verzog sie sich immer ein oder zwei Stunden auf ihr Zimmer, bevor sie wieder herunterkam. Sie hatte ihm erzählt, dass ihr Freund wegen Dealens in Untersuchungshaft war, und sie hier das Geld verdienen wollte, mit dem sie vielleicht jemand bestechen oder ihm wenigstens einen guten Anwalt beschaffen konnte.
Zeig her, sagte er auf Russisch und zog ihr vorsichtig die Hände vom Gesicht. Das Blut kam aus der Nase, das war nicht so schlimm, aber die Nase war geschwollen und er war sicher, dass das Nasenbein gebrochen war.
Sie flüsterte: »Er wollte etwas von mir, aber das mache ich nicht.«
»Ich bringe dich ins Spital«, sagte er.
»Nein, sagte sie, nicht ins Spital!« Sie schüttelte unwillkürlich den Kopf und schrie dabei auf vor Schmerz.
»Du musst ins Spital, wir müssen sehen, ob die Nase gebrochen ist. Sonst wirst du immer mit einer dicken Nase herumlaufen.«
»Aber ich kann nicht!«
»Komm, wir sagen, du bist spazieren gegangen und ein Betrunkener wollte mit dir anbandeln und hat dich geschlagen, als du nein gesagt hast.«
»Nein, ich will nicht ins Spital. Bitte!«
Die Chefin kam zurück und der Türsteher sagte ihr, dass das Mädchen ins Spital musste, und das Mädchen begann vor Angst zu zittern und sagte wieder: Ich kann nichts ins Spital!
Die Chefin runzelte die Stirn und sah das Mädchen an: »Sag, hast du mir eigentlich schon deinen Pass gezeigt?«
Das Mädchen blickte zu Boden und schüttelte kaum merklich den Kopf.
Es stellte sich heraus, dass das Mädchen noch nicht einmal siebzehn war.
Die Chefin beschäftigte keine Minderjährigen, das war ihr zu gefährlich, sie ließ sich von allen immer den Pass zeigen. Aber in diesem Fall hatte die Zuhälterin, die ihr das Mädchen vermittelt hatte, sie schon seit Wochen mit irgendwelchen Vorwänden hingehalten, bis die Chefin die Sache vergessen hatte.
»Raus!« sagte die Chefin und ging aus dem Zimmer.
Der Türsteher bestellte ein Taxi, fuhr mit dem Mädchen ins Spital, ließ ihr die Nase einrenken und brachte sie dann in seine Wohnung. Dann fuhr er zu der Zuhälterin und drohte ihr mit einer Anzeige wegen Menschenhandels, wenn sie ihm den Pass nicht herausgeben würde.
»Die sagt nie aus gegen mich«, sage die Zuhälterin, »dann weiß ihre ganze Familie und die ganze Stadt, was sie hier gemacht hat. Gib mir zweitausend Euro und du kannst sie haben.«
»Sie hat dir schon mehr als das abgeliefert. Vielleicht sagt sie nicht aus, aber ich zeig dich trotzdem an und du hast monatelang Scherereien und verlierst viel mehr als zweitausend, bis du wieder Mädchen herbringen kannst. Ist dir das die Sache wert?«
Er bekam den Pass.
Der Türsteher ließ das Mädchen bei sich wohnen, bis ihre Nase wieder verheilt war. Sie wollte für ihn kochen, aber ihr Essen war so, dass lieber er für sie kochte. Dafür putzte sie ihm die Wohnung. Wenn er um die Mittagszeit kam – er schlief wieder in einem der Gästezimmer im Club – hielt sie für ihn ein Frühstück bereit. An den Nachmittagen schauten sie Videos, bevor er zur Arbeit ging, denn es stellte sich heraus, dass sie wie er Filme von Jim Jarmusch und Almodovar mochte.
»Ich mag es nicht, wenn mir die Musik sagt, was ich fühlen soll«, sagte sie einmal.
Sie erzählte ihm von einem Buch, dass sie gelesen hatte, über einen Vietnamkriegs-Veteranen, der nicht mehr spricht und so tut, als wäre er ein Vogel. Er kaufte das Buch und las es und dachte sich so sein Teil, warum ihr gerade dieses Buch so wichtig war. Einmal in der Woche, wenn ihr Freund im Gefängnis Besuchstag hatte, rief sie seine Mutter an und gab ihr Grüße für ihn mit und erzählte ihr, wie es ihr angeblich in dieser Woche ergangen war, damit die Mutter es ihm berichten konnte. Ihre Geschichte war, dass sie hier in einem Restaurant als Küchenhilfe arbeitete, und jede Woche dachte sie sich Geschichten aus, welche Eifersuchtsszenen sich die beiden schwulen Kellner schon wieder geliefert hatten und was der Hund der Köchin wieder angestellt hatte und wie der Chef sie wieder einmal gelobt und ihr den Lohn erhöht hatte. Und dann sagte sie noch: »Und vergiss nicht zu sagen, dass ich ihn liebe!« Und am Abend des Besuchstages rief sie wieder an, um zu hören, welche Neuigkeiten ihr Freund ihr geschickt hatte und ob er auch ausrichten ließ, dass er sie liebte.
Sie hatte irgendwo einen Vater, der trank und eine Mutter, die mit einem anderen Mann Kinder hatte und von ihr nichts mehr wissen wollte. Seit sie ihren Freund kannte, hatte sie mit ihm in der Wohnung seiner Mutter gelebt, solange, bis er ins Gefängnis gekommen war.
Als ihre Nase verheilt war, fuhr sie nach Hause. Er brachte sie zum Zug. Bevor sie einstieg, umarmte sie ihn und gab ihm einen kleinen Kuss. Als der Zug abgefahren war, begann er zu weinen.
Am nächsten Tag rief sie ihn an. Sie war so glücklich, wieder zu Hause zu sein und wenigstens in der Nähe von ihrem Freund, aber es war etwas passiert: In der Nacht war sie eingeschlafen und jemand hatte ihr das Geld, das sie unterm Pulli versteckt hatte, gestohlen. Die ganzen 1000 Euro, die sie sich erspart hatte.
Und eine Woche später rief sie ihn wieder an: »Kannst du einen Club für mich finden, wo ich arbeiten kann, sagte sie, du weißt schon, wo sie nicht so schauen? Oder eine Agentur?«
Tagelang kochte es in ihm. »Hast du noch nicht genug?«, dachte er wütend. Er sah sie vor sich, wie sie hinauf rannte um zu duschen, wenn sie ein Zimmer gemacht hatte, wie man das nannte. Wie sie dann ganz im hintersten Winkel des Mädchentischs saß und den Blicken der Gäste nach Möglichkeit auswich. Die meisten Mädchen schüttelten das eben Erlebte ab wie nasse Hunde, wenn sie vom Zimmer kamen, zumindest äußerlich, und ein paar wenige schienen wirklich ihren Spaß mit den Gästen zu haben. Willst du dich wieder vor jedem dahergelaufenen ficken lassen, willst du wieder jedes Mal eine Stunde unter der Dusche stehen, bis du dich wieder halbwegs sauber fühlst, willst du dich wieder von einem Besoffenen zusammenschlagen lassen, weil du dich nicht in den … lässt? Natürlich konnte er einen Job für sie finden. Natürlich gab es Etablissements, die nicht so aufs Alter schauten. Im Gegenteil, es gab welche, die würden sie mit Handkuss nehmen, gerade wegen ihres Alters.
Mit der Zeit reifte ein Gedanke in ihm. Er kam sich nicht gut dabei vor, er versuchte, sich diesen Gedanken auszureden, aber der Gedanke war hartnäckig. Nach zwei Monaten rief er sie an: »Willst du immer noch kommen? Ich hätte einen Job für dich. Einen Privatkunden. Er will dich auf Urlaub mitnehmen, eine Woche. Er zahlt alle deine Ausgaben, Fahrt, Hotel, Essen und so weiter, und tausend Euro. Ich habe fünftausend verlangt, aber er will nicht mehr zahlen. Willst du es trotzdem machen? Dann erwarte ich dich am Samstag. Hast du das Fahrgeld?«
Sie borgte sich das Fahrgeld von der Mutter ihres Freundes aus. Er hatte sich ein Auto ausgeliehen und holte sie am Samstag Morgen vom Bahnhof ab.
»Ich bringe dich selber hin«, sagte er. »Es ist ein Kurhotel, zwei Stunden von hier.«
Sie war erschöpft von der langen Fahrt, hatte kaum geschlafen und zitterte. Unterwegs musste er zweimal halten, weil sie sich übergeben musste. »Entschuldige bitte«, sagte sie, »ich konnte nicht schlafen.«
Er hielt bei einer kleinen Pension etwas außerhalb des Kurorts und holte den Schlüssel für das Appartement.
»Er kommt erst heute Abend an. Schlaf dich erst einmal aus, damit du dann frisch bist.«
Dann wartete er in dem Wohnraum, während sie schlief, und starrte vor sich hin. Sie schlief sechs, sieben, acht Stunden. Er versuchte zu lesen, aber er konnte sich nicht konzentrieren. Die meiste Zeit ging er nur auf und ab. Als er drinnen das Wasser der Dusche laufen hörte, machte er Kaffee mit viel heißer Milch in der kleinen Kochnische. Als sie herauskam hatte er zwei Tassen bereit, so wie sie es für ihn immer gemacht hatte. Neben ihrer Tasse lag ein Umschlag.
»Also, es ist so«, sagte er. »Hier ist dein Geld, zähl es nach, es sind tausend Euro.«
»Und der Kunde?« fragte sie.
»Der Kunde bin ich.«
Sie starrte ihn an.
»Du hast mir gefehlt«, sagte er. »Ich hätte dir das Geld auch schenken können, aber so uneigennützig bin ich nicht. Was soll ich machen. Schau mich nicht so an, bitte.«
Er sah, dass sie Tränen in den Augen hatte.
»Jetzt denkst du sicher ganz schlecht von mir.«
»Nein«, sagte sie. »Ich denke nicht schlecht von dir. Aber ich kann nicht.«
»Warum nicht? Wenigstens bin ich kein Fremder für dich. Ich dachte, das macht es leichter.«
Sie schaute zu Boden und schüttelte den Kopf.
»Das kann ich nicht. Das geht nicht.«
Er nahm ihre Hände in die seinen: »Aber warum nicht? Ich bin wie alle die anderen. Warum denn mit mir nicht?«
Jetzt begann auch er zu weinen.
»Ich kann nicht. Du bist wie ein Vater für mich!«
Und dabei blieb es. Er brachte sie zurück, kaufte eine Fahrkarte und setzte sich mit ihr bis zur Abfahrt ins Bahnhofscafé. Er schenkte ihr – nicht die ganzen tausend Euro, aber fünfhundert. Sie wollte sie nicht nehmen, aber er nahm ihre Handtasche mit dem Reisepass und drohte ihr, damit davonzulaufen und sie alleine hier sitzen zu lassen, wenn sie das Geld nicht annähme. Dann brachte er sie zum Zug. Als der Zug abfuhr, legte sie von drinnen die Hand auf die Scheibe. Er legte die seine von außen drauf. Er machte die Augen zu und spürte, wie das Fenster unter seiner Hand wegglitt.

Romageschichten

Sandra – eine Geschichte aus Šuto Orizari.
Der rote König und die Hexe – ein Märchen aus Rumänien
Der Rom und der Priester – ein Schwank aus Rumänien
Eine Lügengeschichte – aus der Bukowina
Der Geliebte – ein Märchen aus der Bukowina

Die Märchen stammen aus der Sammlung „Gypsy Folk Tales“ von Francis Hindes Groome (1899) , Übersetzung Martin Auer

Playlist:
Unbekannte Musiker aus Serbien – Hochzeitsmusik
Aziz – Sen Trope
Martin Auer – Sandra – BY-NC-SA
Ben Holmes und Patrick Farrell – Prelude 2 in A Moll von F. Chopin – BY-NC-ND
Martin Auer (Übers.) – Der rote König und die Hexe – BY-NC-SA
Gipsyork – Intr-o Zi La Poarta Mea – BY-NC-ND
Martin Auer (Übers.) – Der Rom und der Priester – BY-NC-SA
Fishtank Ensemble – Zuki Zuki – BY-NC-ND
Martin Auer (Übers.) – Ein Lügenmärchen – BY-NC-SA
Unza Unza Orkstr – Unza Unza Live at Pacific Park – BY-NC-SA
Peter Rosmanith – Schneesand
Martin Auer (Übers.) – Der Geliebte – BY-NC-SA
Kevin McLeod – Signation – BY

Die Texte sind zu finden auf der Seite „Wo ist Zigeunerland?“

Sternenschlange

Ein gefangener Aztekenkrieger tanzt, bis er an die Reihe kommt, geopfert zu werden. Dabei erinnert er sich an die Geschichte des Aufstiegs der Azteken zur beherrschenden Macht von Mexiko.

Playlist:
Martin Auer – Sternenschlange – BY-NC-SA
Takanakuy – Dolor patriarcal – BY-NC-SA
Takanakuy – Beber – BY-NC-SA
Takanakuy – El Wayno de Bordeaux – BY-NC-SA
Takanakuy – Una copla me han cantando – BY-NC-ND
Takanakuy – El camino – BY-NC-SA
Kevin McLeod – Signation – BY

Sternenschlange
Hier bin ich. Ich tanze. In langer Reihe tanzen wir, geschmückt zu Ehren des Gottes. Bald werden wir bei Huitzilopochtli sein, bald werden wir die Sonne am Himmel begleiten. Wir waren Krieger, jetzt sind wir Gefangene. In langer Reihe tanzen wir, und vorne stehen die Opferpriester. In langer Reihe tanzen wir, und einer nach dem anderen sinkt dahin, als Opfer für die Götter. Bald werden sie auch mir das Messer aus schwarzem Stein in die Brust stoßen, mein Blut wird über den Opferstein fließen, und sie werden mein Herz herausschneiden. Mein Blut ist Nahrung für die Götter. Mein Blut ist Nahrung für Huitzilopochtli, die Sonne.

Ich tanze. Sie haben mir Pulque zu trinken gegeben, jetzt bin ich leicht und tanze. Erst war ich traurig, dass nicht ich es war, der einen Feind zum Gefangenen machte. Aber jetzt bin ich leicht: Durch mich wird die Erde gerettet werden, mein Opfer wird die Götter versöhnen, dass sie die Erde nicht vernichten. Ich werde aufsteigen zu Huitzilopochtli, ich werde ihn am Himmel begleiten. Und dann werde ich zu einem Kolibri werden, wie alle tapferen Krieger, die im Kampf gefallen sind, die im Kampf geopfert wurden, und werde von Blume zu Blume fliegen und immer fröhlich sein, solange die Erde besteht.

So war es immer, und so muss es sein.

Ich tanze, und immer näher komm ich zum Opferstein. Ich tanze, und während ich tanze, erinnere ich mich:

Ich wurde am Tag 1 des Ozelotmonats geboren, und so hat mir das Schicksal den Tod als Kriegsgefangener bestimmt. Als ich zur Welt kam, sagte die Hebamme zu mir: „Geliebter Sohn, wisse, dass dein Haus nicht dein Geburtshaus ist, denn du bist ein Krieger, du bist ein Quecholli-Vogel, und das Haus, in dem du zur Welt kamst, ist bloß ein Nest. Du bist dazu bestimmt, die Sonne mit dem Blut deiner Feinde zu laben und die Erde mit ihrem Leib zu ernähren.“ So werden alle Knaben begrüßt. Wäre ich ein Mädchen gewesen, so hätte sie gesagt: „Du musst im Haus sein, wie das Herz im Leib. Du darfst das Haus nicht verlassen, du musst sein wie die Asche im Herd“. Viele Reden wurden gehalten bei meiner Geburt, Verwandte und Freunde kamen, und der Wahrsager wurde nach meinem Schicksal befragt. Er legte den Tag meiner Taufe fest, und an diesem Tag wurde ich vielmal mit Wasser besprengt, und die Hebamme sagte die Worte: „Nimm und empfange, denn vom Wasser wirst du auf dieser Erde leben, vom Wasser wächst und grünst du; das Wasser schenkt uns, was uns not tut zum Leben.“ Dann wählten sie den Namen Citlalcoatl für mich, das heißt Sternenschlange.

Acht Jahre lebte ich im Haus meines Vaters. Sobald ich laufen und sprechen konnte, musste ich schon Wasser und Holz holen und meinen Vater zum Markt begleiten. Später lernte ich fischen und segeln, meine Schwestern aber lernten spinnen und weben, fegten das Haus und mahlten den Mais auf dem Reibstein.

Mit acht Jahren brachte mein Vater mich in den Calmecac, in die Tempelschule, und nicht in die gewöhnliche Kriegerschule. „Höre mein Sohn“, sagte er zu mir, „du wirst weder Ehre noch Achtung ernten. Du wirst vernachlässigt, verachtet und erniedrigt werden, Jeden Tag wirst du Agavendornen schneiden, um Buße zu tun. Du wirst dich mit den Dornen stechen müssen und dein Blut als Opfer geben, und Nachts wird man dich wecken, damit du im kalten Wasser badest. Stähle deinen Körper in der Kälte, und wenn die Fastenzeit kommt, so brich sie nicht und lasse dir beim Fasten und bei Bußübungen nichts anmerken.“

In der Tempelschule lernte ich ein Mann zu sein. Opfer und Selbstverleugnung wurde von uns verlangt. In der Nacht mussten wir im Gebirge den Göttern Weihrauch und unser Blut opfern. Bei Tag mussten wir auf den Feldern des Tempels hart arbeiten. Das kleinste Vergehen wurde streng bestraft. Manchmal weinte ich, und dachte, wie schwer es ist, ein Krieger zu sein und ein Mann. Doch mit der Zeit wurde ich stärker. Und ich verachtete die Knaben, die die gewöhnliche Kriegerschule besuchten. Die mussten Holz schlagen und die Wassergräben und Kanäle reinigen und auf dem Gemeindeland ackern. Aber bei Sonnenuntergang gingen sie alle ins Cuicacalco, das Haus des Gesangs und tanzten und sangen da bis Mitternacht und schliefen bei Mädchen, mit denen sie nicht verheiratet waren. Sie verkehrten nur mit Kriegern, deren Taten sie bewunderten und nachahmen wollten. Von den höheren Dingen, von Wissenschaft, Künsten und Götterverehrung hatten sie keine Ahnung.

Wir Schüler des Calmecac waren zu höheren Aufgaben bestimmt, wir konnten Priester oder Beamte werden. Selbstbeherrschung und Härte lernte ich in der Tempelschule. Aber auch mit Anstand reden und grüßen lernte ich, die Sitten, die am Hof des Kaisers herrschen, den richtigen Umgang mit Beamten und Richtern. Ich lernte auch die Sternenkunde und Traumdeutung, die Berechnung der Jahre und den Wahrsagekalender. Ich lernte, die Zeichen und Bilder für Zahlen und Namen zu malen, und die Schriften unserer Vorfahren zu entziffern. Und ich lernte die heiligen Gesänge unseres Volkes, die Lieder, mit denen die Götter geehrt werden, und die Lieder, die die Geschichte der Azteken erzählen. Denn ein großes und mächtiges Volk sind wir, und werden gefürchtet von allen Völkern der Erde.

Einst zogen wir aus von Aztlan, unserer ersten Heimat, nach der wir Azteken benannt sind. Die Sagen berichten, dass Aztlan vom Wasser umgeben war, und wir dort als Fischer gelebt hatten. Zu Anfang waren wir arm, wir kleideten uns in Felle und hatten nichts als Pfeile und Bogen und Wurfbretter für unsere Speere. Wir waren nicht besser als die Waldmenschen, die nördlich unseres Reiches leben.

Vier Priester waren unsere Anführer, die einen Schrein aus Schilf trugen. Darin war unser Gott, Huitzilopochtli, der zu ihnen sprach und ihnen sagte, was wir tun sollten. Nachdem wir Aztlan verlassen hatten, befahl uns unser Gott, wir sollten uns von nun an die „Mondleute“ nennen, die Mexica.

Wenn wir einen günstigen Ort fanden, blieben wir vielleicht ein paar Jahre. Wir säten Mais, aber nicht immer blieben wir lange genug, um ihn auch zu ernten. Meistens nährten wir uns von der Jagd, von Hirschen und Rehen, Kaninchen Vögeln und Schlangen, und von dem, was auf der Erde wuchs.

Unser Gott aber versprach uns: „Wir werden uns niederlassen und sesshaft werden, und wir werden alle Völker der Welt erobern; und wahrhaftig, ich sage euch, ich will Euch zu Herren und Königen machen über alles auf dieser Welt; und ihr werdet herrschen und unzählige Lehensleute haben, die euch Tribut entrichten und euch zahllose und sehr kostbare Steine darbringen werden, dazu Gold, die Federn des Quetzalvogels, Smaragde, Korallen, Amethyste, und Ihr werden Euch damit schmücken. Ihr sollt auch vielerlei Federn haben und Kakao und Baumwolle in vielen Farben. Das alles werdet ihr erleben!“

Manche sagen, dass Huitzilopochtli nicht von Anfang an unser Gott gewesen ist. Unser Stamm bestand aus sieben Sippen, und jede Sippe beriet ihre Angelegenheiten unter sich und wählte sich ihren eigenen Anführer. Und so sagen sie, jede unserer sieben Sippen hätte ihren eigenen Gott gehabt. Doch Huitzilopochtli war der größte unter ihnen, der Gott der Sonne und des Krieges.

Wir kamen durch viele Länder, manche waren öd und nicht besiedelt, andere waren bewohnt, und wir mussten mit den Einwohnern kämpfen. An manchen Orten blieben wir länger und bauten unserem Gott einen Tempel. Aber immer trieb es uns weiter. Oft mussten wir unsere Alten zurücklassen, wenn wir weiterzogen. Manchmal trennten sich auch Gruppen von unserem Stamm und schlugen eine andere Richtung ein. Dafür stießen andere zu uns, Jäger, die noch nie in Dörfern gelebt hatten.

Endlich kamen wir in das schöne Land zwischen den Bergen, das heute unseren Namen, den Namen der Mexica trägt. Hoch über beiden Meeren liegt es, geschützt und umgeben von Bergen. Ewiger Frühling herrscht hier, nur selten gibt es hier Frost, und wenn es im Sommer heiß ist, so bleiben die Nächte doch kühl. Quellen in den Bergen versorgen das Land mit Wasser, und am Grunde des Tales liegen fünf kühle Seen, umgeben von Dörfern und Städten.

Hier war einst ein mächtiges Reich gewesen, das Reich von Tula, der Stadt des Gottes Quetzalcoatl. Doch Quetzalcoatl, der Gott der Künste und des Kalenders, hatte seine Stadt verlassen und das Reich war zerfallen. Die Dörfer und Städte an den Lagunen waren klein, und sie hatten keinen gemeinsamen Herrscher. Jedes Volk lebte für sich in seiner Stadt, mit eigenen Sitten und eigenen Göttern.

Wir fanden ein Heim an einer Stelle, die Heuschreckenhügel genannt wurde, Chapultepec. Dort wählten wir zum ersten Mal einen einzigen Anführer für den ganzen Stamm. Denn wir mussten zu oft Kriege führen mit unseren Nachbarn, und brauchten einen kriegserfahrenen Häuptling. Unsere Nachbarn sorgten sich, als wir uns niederließen und vermehrten, und sie fielen über uns her. Wir verteidigten uns gut, doch als sie zu stark wurden, vertrieben sie uns. Unser Anführer wurde gefangengenommen und geopfert, und wir mussten uns unseren Nachbarn unterwerfen.

Die Herrscher von Culhuacan wiesen uns einen Ort an zwei Stunden von ihrer Stadt, wo es von Schlangen wimmelte. Dort sollten wir leben, denn sie hatten Angst vor uns, und wollten uns nicht in ihrer Nähe haben. Doch wir fingen die Schlangen und brieten sie, denn wir waren von unserer langen Wanderschaft gewohnt, mit Widrigkeiten fertig zu werden, und darum nannten sie uns Schlangenfresser. Doch sie hatten Respekt vor uns, weil wir überlebt hatten, wo keiner sonst überleben konnte. So konnten wir bald mit ihnen Handel treiben, sie heirateten unsere Töchter und wir die ihren und wir wurden verwandt miteinander. Als sie Krieg hatten mit ihren Nachbarn, da riefen sie uns zu Hilfe, und wir machten uns Waffen und retteten sie. Doch als sie sahen, wie gute Krieger wir waren, da bekamen sie Angst vor uns und dankten uns nicht. Da führten wir Krieg mit ihnen.

Wir mussten fliehen, und kamen nach Acatzintlan. Dort machten wir uns Flöße aus unseren Schildern und Speeren und fuhren über das Wasser auf eine kleine Insel im See.

Da erschien Huitzilopochtli einem seiner Priester, und sagte ihm, wir sollten einen Feigenkaktus suchen, auf dem ein Adler sitzen würde. Dieser Platz sollte „Ort der Kaktusfrucht“ heißen, Tenochtitlan, und dort sollten wir eine Stadt gründen. Wir suchten, und fanden den Adler auf dem Kaktus sitzen, und er verspeiste eine rote Kaktusfrucht, wie die Sonne die Herzen der Krieger verspeist. Da stachen wir Rasenstücke aus dem Boden, und schichteten sie zu einem Hügel auf dem wir Huitzilopochtli ein Gebetshaus aus Schilf errichteten.

„Hier“, so sagte Huitzilopochtli zu uns, „hier werden wir uns zu Herren über alle Völker machen, über ihren Besitz, über ihre Söhne und Töchter. Hier werden sie uns dienen und Tribut zahlen; an diesem Ort wird die berühmte Stadt aufgebaut, die bestimmt ist, Königin und Herrin über alle anderen zu werden – wo wir eines Tages alle Könige und Fürsten empfangen werden, die kommen müssen, um der mächtigsten Stadt zu huldigen.

So waren wir wieder an einem Ort, der von Wasser umgeben war, wie unsere alte Heimat Aztlan.

Wie wir es von alters her gewohnt waren, teilten wir die Stadt in die heilige Zahl vier. Vier Viertel hatte die Stadt, und jedes Viertel war in Unterbezirke geteilt, die Calpulli hießen. Jeder Calpulli gehörte einer Sippe und hatte seinen eigenen Tempel für den Sippengott. Das Land gehörte der ganzen Sippe, und den einzelnen Familien wurde es nur geliehen.

Vögel und Fische gab es hier im Überfluss. Doch da das Land beschränkt war, legten wir Gärten im Wasser an. Wir flochten Wände aus Schilf, und schichteten zwischen diesen Wänden Wasserpflanzen und Schlamm auf, bis sie aus dem Wasser ragten. Dann konnten wir Bohnen und Mais darauf pflanzen.

Nach einigen Jahren kam es zum Streit, und ein Teil des Stammes zog aus, und gründete Tlatelolco auf einer nahen Insel.

So lebten wir zwischen Schilf und Binsen auf unserer Insel, und hatten weder Holz noch Steine. Seit unserem Auszug aus Aztlan waren zweihundert Jahre vergangen.

Wir unterwarfen uns niemand, denn unsere Stadt lag an der Grenze dreier Gebiete, der Tepaneken, der Acolhua und der Leute von Culhuacan, die alle rund um den See siedelten. Wir gingen auf ihre Märkte und handelten mit ihnen. Wir brachten ihnen Fische, Frösche und andere Wassertiere, und sie gaben uns Holz und Steine für unsere Häuser und Tempel.

Als unser Anführer und Oberpriester Tenoch starb, baten wir den Herrscher von Culhuacan, uns einen Herrn zu geben. Denn die Mexica waren verachtet und unbedeutend, und wir dachten, es würde unser Ansehen heben, den Sohn eines großen Fürsten zum Herrn zu haben. Wir baten ihn, uns Acamapichtli zum Herrn zu geben, der der Sohn eines Mexikaners und einer Culhua-Prinzessin war. Er war aber auch mit den Acolhua verwandt. Tlatelolco aber wählte sich einen Sohn des Tepanekenhäuptlings zum Herrn, sodass wir mit allen Staaten rund um den See verwandtschaftliche Beziehungen hatten. Acamapichtli regierte friedlich, er ließ Häuser, Wassergärten und Kanäle bauen.

Von allen Völkern rund um den See waren die Tepaneken die mächtigsten. Sie führten Krieg gegen andere Städte, und wenn sie sie besiegt hatten, verlangten sie Tribut von ihnen. Als sie immer mächtiger wurden, mussten auch wir ihnen Tribut zahlen und mit ihnen in den Krieg ziehen, wenn sie es verlangten.

Als unser Herrscher Acamapichtli starb, wählten unsere Führer seinen Sohn Huitzilihuitl, Kolibrifeder, zum Nachfolger, und der heiratete eine Enkelin des Tepanekenherrschers. So wurde unsere Lage besser, und die Tepaneken mussten uns achten. Huitzilihuitl führte Krieg mit den südlichen Ländern, wo es Baumwolle im Überfluss gab. So bekamen die Mexica die ersten Baumwollkleider, denn bisher hatten sie nur grobe Stoffe aus den Fasern der Agave gekannt. Dann eroberte er Cuauhtinchan, Chalco, Otumba, Tulancingo und noch andere Städte. Er begann den Krieg gegen Texcoco.

Sein Sohn war Chimalpopoca, der nach ihm zum Herrscher gewählt wurde. Er beendete den Krieg gegen Texcoco und eroberte die Stadt. Der Tepanekenherrscher übergab die Stadt den Mexica und sie mussten uns Tribut zahlen. Aber noch immer mussten auch wir Tribut an die Tepaneken bezahlen.

Doch als der Herrscher der Tepaneken starb, wollten wir nicht mehr Untertanen sein. Unsere Stadt war größer geworden, und wir lebten nicht länger in Hütten, sondern bauten uns Häuser aus Stein. Wir wollten nicht länger den Tepaneken dienen. Freilich, die kleinen Leute, die Bauern, fürchteten sich vor dem Krieg. Denn sie hatten die Macht der Tepaneken kennengelernt. Da sagten die Oberen – das waren die Verwandten des Herrschers, die Priester und die Anführer der Krieger -: „Wenn wir mit diesem Krieg keinen Erfolg haben, so geben wir uns in euere Hände. Ihr könnt euch dann an uns rächen und uns in schmutzigen Käfigen verkommen lassen.“ Darauf antwortete das Volk: „Und wir versprechen, euch zu dienen und für euch zu arbeiten, eure Häuser zu bauen und euch als unsere wahren Herren anzuerkennen, solltet ihr diesen Krieg gewinnen“.

So verbündeten wir uns mit denen von Texcoco, mit denen wir früher Krieg geführt hatten, und kämpften gegen die Tepaneken. Hundertvierzehn Tage belagerten wir ihre Stadt. Dann eroberten wir sie. Ihr Herrscher Maxtla wurde geopfert und sein Herz herausgeschnitten. Dann wurde er begraben, wie es einem Herrscher  gebührt.

Nun hatten die Mexica viel Land erbeutet. Dieses Land wurde nun verteilt. Und entsprechend der Abmachung zwischen den Oberen und dem Volk, bekamen der Herrscher und die Oberen den größten Anteil vom Land, die Sippenverbände aber bekamen ganz wenig, nur soviel, dass sie ihre Tempel erhalten konnten. Manche sagen aber, diese Abmachung zwischen dem Volk und den Oberen hätte es nie gegeben, und die Oberen hätten sie nur erfunden.  Das Volk sagte, das sei ungerecht, und früher hätte aller Boden dem ganzen Stamm gehört, und alle hätten das gleiche Recht gehabt. Aber konnten sie sich wehren? Die Krieger hatten den Krieg gewonnen und das Reich vergrößert. Und wer sollte im Lande mächtig sein? Die Bauern, die ein bisschen Mais aus der Erde ziehen? Oder die Krieger, die das Reich vergrößern, und andere Völker tributpflichtig machen, und die dafür sorgen, dass immer Gefangene da sind, um bei den Festen geopfert zu werden, damit die Götter uns nicht zürnen und nicht die Welt vernichten?

Als wir noch herumzogen und arm und verachtet waren, da waren wir alle gleich gewesen, das stimmt. Jeder war Krieger und Bauer und zugleich. Aber wie soll man Kriege führen und Städte erobern, wenn alle durcheinander reden und jeder ein Ratgeber sein will? Und sollen die Priester, die Richter, die Beamten etwa auch den Boden aufhacken? Wie sollen sie da ihr Amt ausüben?

Nein, es ist eine gerechte Ordnung: jeder junge Mann nimmt am Kriegsdienst teil. Wenn der Knabe zehn Jahre alt ist, schneidet man ihm die Haare vom Kopf, und nur hinten am Nacken bleibt ein Schopf stehen. Wer zum ersten mal einen Gefangenen macht, und wenn es auch mit Hilfe von einigen Kameraden ist, der darf den Schopf abschneiden. Er ist ein Iyac. Aber erst, wer allein vier feindliche Krieger gefangengenommen hat, der wird ein Tequia. Und stehen einem Tequia nicht alle Ämter und Ehren offen? Ein Tequia bekommt einen Teil der Steuern, die der Herrscher einhebt, er darf Federn und lederne Armreifen tragen, er kann ein Jaguar-Ritter oder ein Adler-Ritter werden. Ein Tequia kann vom Kaiser für hohe Ämter ausgewählt werden. Aber wer es nicht schafft, nach ein oder zwei Feldzügen ein Tequia zu werden, der muss auf den Acker. Er muss Steuern zahlen und wird für die öffentlichen Arbeiten herangezogen, er muss die Straßen reinigen oder die Dämme reparieren, und muss auf den Äckern der hohen Beamten arbeiten. Er darf keine Baumwollgewänder und keinen Schmuck tragen. Ist das nicht gerecht?

Wer sich aber auszeichnet als Krieger und als Beamter, der wird beschenkt mit Kleidung, Schmuck und Land. Die anderen müssen für ihn arbeiten und seine Speicher mit Mais füllen.

Wir sind ein großes und ein reiches Volk geworden. Auf dem Markt gibt es Mais, Gemüse, Geflügel, Frauen kochen auf kleinen Feuern vielerlei Gerichte, die man von ihnen kaufen kann, Händler bieten Stoffe, Schuhwerk, Getränke, Felle, Geschirr, Seile, Pfeifen und allerhand Werkzeuge an. Die Fischer bringen Fische, Schnecken und Krebse vom See in die Stadt. Unsere Kaufleute bringen aus den fernsten Gebieten grüne Jade und Smaragde, Schildkrötenpanzer und Jaguarfelle, Bernstein und Papageienfedern. Die Städte, die wir erobert haben, liefern uns als Tribut jedes Jahr 52.000 Tonnen Lebensmittel, endlos sind die Kolonnen der Träger. 123.000 Baumwollgewänder müssen die Tributpflichtigen liefern, 33.000 Bündel Federn. Die Provinz Yoaltepec schickt uns jährlich vierzig Goldreifen von Fingerdicke, Tlachquiauco muss zwanzig Kürbisflaschen Goldstaub abliefern. Aus Xilotepec kommen jedes Jahr 16.000 Frauenkleider, 16.000 Männerkleider, zwei Kriegertrachten mit Schild und Kopfschmuck und vier lebendige Adler. Aus Tochpan kommt Pfeffer, aus Tochtepec kommt Gummi und Kakao. Die Provinzen liefern uns Mais, Getreide, Kakao, Honig, Salz, Pfeffer, Tabak, Möbel und Geschirr. Sie müssen Gold von der Südküste herbeischleppen, Türkis und Jade von der Ostküste. Huaxtepec liefert Papier, Cihuautlán Muscheln.

Haben wir nicht viele Städte zusammengeschlossen zu einem großen Reich? Unsere Steinschneider, die aus den Edelsteinen den Schmuck machen, stammen sie nicht aus Xochimilco? Und die Federflechter, die den herrlichen Kopfschmuck erzeugen, sind sie nicht aus Amantlan? Haben wir sie nicht besiegt und ihr Haus in Flammen aufgehen lassen? Aus dem fernen Süden aber stammen die Goldschmiede.

Unser Kaiser Moctezuma ist in seinem Palast von 3000 Hofbediensteten umgeben, nicht zu reden von all seinen Adlern, Schlangen und Jaguaren, die jeden Tag 500 Truthähne fressen. Im Monat Uey tecuihuitl, wenn die Armen ihre Vorräte verzehrt haben, öffnet der Kaiser seine Speicher und lässt Speise und Trank unter das Volk verteilen. 700.000 Menschen leben in der Stadt Mexico-Tenochtitlan, wir haben die Inseln befestigt, Dämme ins Wasser gebaut, Brücken über die Kanäle gelegt, Tempel und Paläste haben wir erbaut, einen Aquädukt, der Trinkwasser von Chapultepec in die Hauptstadt bringt. Wenn der Kaiser einen Tempel bauen lässt, liefern die Städte ihm Steine und Kalk. Tausende Arbeiter muss der Kaiser ernähren, die den Göttern den Tempel errichten. Gärten und Bäder haben unsere Kaiser errichten lassen, und Tiere und Pflanzen aus dem ganzen Reich hier versammelt. Wenn der Kaiser ein Fest feiert, lädt er die Herrscher der feindlichen Städte ein, und beschenkt sie mit Schmuck und reichen Kleidern. Wer ist so reich, so mächtig wie wir, die Mexica? Als unser Kaiser Ahuitzotl den Aufstand der Huaxteken niederschlug, da dauerten die Feiern viele Wochen. Allein die Opferung der Gefangenen dauerte vier Tage! Kein Volk ist größer, kein Volk ist stärker als das unsere!

Aber:

Wie sie sagen, wohnen wir hier nicht,
noch sind wir gekommen, um hier zu verweilen.
Oh, ich muss die schönen Blumen lassen,
Ich muss hinunter auf der Suche nach dem Jenseits.
Oh, für einen Augenblick wurde mein Herz müde:
die schönen Lieder
sind uns nur geliehen.

Die Götter brauchen Opfer. wir müssen die Götter mit Opfern ernähren, damit sie die Welt nicht vernichten. Ich tanze. Die Trommeln schlagen, die Flöten klagen, ich tanze. Immer schneller, tanze ich, immer wilder. Bald werde ich bei Huitzilopochtli sein. Nein, ich selbst bin Huitzilopochtli, trage ich nicht sein Gewand, bin ich nicht gekleidet wie er? Hier steht der Priester mit dem Messer aus schwarzem Stein. Nun bin ich an der Reihe.

Der Tätowierer

Dirk Schreiber überfiel Menschen, verschleppte sie und tätowierte sie gegen ihren Willen. Er hielt sich für einen Künstler.

Playlist:
Easy Rider – The Pusher – BY-NC-ND
Martin Auer – Der Tätowierer 1 – BY-NC-SA
Bruce Gremo – Cilian Developments – BY-NC-ND
Martin Auer – Der Tätowierer 2 – BY-NC-SA
Ergo Phizmiz – A Courtly Knees Up – BY-NC-SA
Kevin McLeod – Signation – BY

Der Tätowierer

F: Dirk Schreiber, Sie sind praktisch sofort nach Ihrer Entlassung aus der Haftanstalt zur Eröffnung Ihrer ersten Ausstellung im New Yorker Guggenheim Museum geflogen.

A: Ja, so war’s. Am Gefängnistor hat eine Limousine gewartet und mich zum Flughafen gebracht.

F: Was war das für ein Gefühl? Einen so krassen Gegensatz erlebt kaum jemand, der gerade aus dem Knast entlassen wird, und das nach Verbüßung einer zehnjährigen Haftstrafe.

A: Ich weiß das nicht. Ich bin nur ein einziges Mal aus dem Knast entlassen worden. Es war auch nicht so ein starker Gegensatz. Ich hatte ja schon die ganzen Monate vorher die Ausstellung vorbereitet, viel gemalt und gezeichnet, und dann das Hängen der Bilder – das musste ich ja virtuell machen, am Computer, da ich noch nicht vor Ort sein konnte. So war dann die Reise zur Ausstellung nur der letzte logische Schritt, also nicht die große Befreiung, sondern einfach die nächste Aufgabe, die sich mir gestellt hat.

F: In der Ausstellung waren nur gemalte Bilder zu sehen? Keine Tätowierungen?

A: Es waren auch einige Tonskulpturen dabei. Sonst nur Acrylmalerei und Kohlezeichnungen. Ganz klassisch.

F: Und keine Tätowierungen?

A: Keine Tätowierungen.

F: Haben Sie in der Haft auch anderes getan als gemalt und gezeichnet? Ich meine, haben Sie über die Taten nachgedacht, die Sie in den Knast gebracht haben?

A: Sicherlich. Vor allem am Anfang, in den ersten Jahren.

F: Fanden Sie das Urteil gerecht?

A: Ob es gerecht war, kann ich bis heute nicht sagen. Aus einem gewissen Blickwinkel heraus war es sicherlich verständlich. Ich habe verstanden, dass die Richter nicht anders urteilen konnten, ja. Ich bin wegen Freiheitsberaubung und schwerer Körperverletzung in 28 Fällen zu 15 Jahren Haft verurteilt worden, wovon man mir fünf Jahre erlassen hat wegen guter Führung. Objektiv gesehen war es das wohl, Freiheitsberaubung und so weiter. Objektiv gesehen waren das diese Delikte. Aber subjektiv, muss ich sagen, subjektiv habe ich das getan, was jeder Künstler tut: Ich bin meiner inneren Stimme gefolgt. Ich habe getan, was ich tun musste.

F: Sie haben Menschen gegen ihren Willen tätowiert.

A: Ja.

F: Sie haben sie überfallen, betäubt, in ein Versteck verschleppt und sie dort gefangen gehalten, bis die Tätowierung fertig war.

A: Ja.

F: Das Gericht hat diese Taten als Verbrechen angesehen, nicht als Kunst.

A: Ja. Das war in der Kunstgeschichte schon oft so. Künstler sind wegen Verstoß gegen die guten Sitten verurteilt worden, wegen Gotteslästerung, Majestätsbeleidigung, Wehrkraftzersetzung, wegen konterrevolutionärer Umtriebe… Man hat Künstler auf dem Scheiterhaufen verbrannt, ins KZ gesteckt, in die Irrenanstalt…

F: Wollen Sie damit sagen, dass man Sie wegen Ihrer Gesinnung verurteilt hat?

A: Ich will damit sagen, wenn man als Künstler neue Wege geht, muss man damit rechnen, verfolgt zu werden.

F: Leugnen Sie, dass Sie Menschen großen Schmerz zugefügt haben?

A: Natürlich nicht. Schmerz zufügen liegt in der Natur des Tätowierens. Die Tätowierung war immer ein Zeichen: Seht her, ich habe Schmerz ertragen, ich kann das aushalten. Früher, als man noch nicht so hygienisch gearbeitet hat wie heute, hat sie natürlich auch bedeutet: Seht her, ich habe eine gute Konstitution, ein gutes Immunsystem, ich habe kein Wundfieber bekommen, keine Tetanusinfektion, was weiß ich. Unbewusst natürlich. Und das ist noch heute so. Man könnte ja eine Tätowierung auch unter lokaler Betäubung machen. Aber das wäre eine Farce. Und kein Mensch verlangt sowas. Die Menschen sind immer zu mir gekommen, um sich Schmerz zufügen zu lassen.

F: Aber doch freiwillig.

A: Ja, die Menschen, die ins Tattoo-Studio kommen, kommen freiwillig. Aber wie oft ist man unfreiwillig der Kunst oder irgend einem Medium ausgesetzt. Man geht durch die Fußgängerzone, und da spielt ein Straßenmusiker. Man geht durch ein Kaufhaus und wird mit Musik berieselt. Sie fahren mit dem Auto und werden mit Plakaten bombardiert, mit Leuchtreklamen, mit Videowänden. Das alles stürmt auf Sie ein und Sie müssen sich damit auseinandSersetzen, ob Sie wollen oder nicht. Sie gehen in eine Kinopremiere und Sie wissen nicht, welchen Schockeffekten Sie ausgesetzt sein werden. Hinterher müssen Sie vielleicht kotzen. War das jetzt freiwillig? Im vorigen Jahrhundert haben Schauspieler eine Theaterform entwickelt, „unsichtbares Theater“. Die haben an der Bushaltestelle einen Ehestreit angefangen oder etwas in der Art und haben die Passanten da hineinverwickelt und wollten den Leuten damit Inhalte in Bezug auf die Emanzipation der Frau vermitteln oder so was, und die Leute waren dem ausgesetzt und waren sich gar nicht bewusst, dass sie Kunst erleben oder sogar Teil eines Kunstwerks sind. So gesehen kann man sagen, ich habe den Menschen ein Erlebnis vermittelt, eine extreme Erfahrung, die sie vielleicht auch weitergebracht hat. Eine Art Katharsis, ein heilsamer Schrecken.

F: Sie haben sich also von Anfang an als Aktionskünstler gesehen?

A: Nicht von Anfang an. Am Anfang war es die reine Verzweiflung. Am Anfang wollte ich einfach nur gute Tattoos machen. Sehen Sie, diese ganzen Schnörkel und Arabesken, die sich die Leute so stechen lassen – das ist ja schrecklich. Das ist grauenhafter Kitsch. Ich rede gar nicht von den Tigern und Herzen und Totenköpfen. Auch das abstrakte Zeug, die chinesischen Schriftzeichen, die keltischen Runen, die Arschgeweihe, das ist ja zum Speien. Ich wollt einfach nur gute Tattoos machen, spontan, nicht nach einer Vorlage, wo die Leute sich was aus einem Katalog aussuchen, sondern ganz spontan, vom Körper inspiriert, von der Haut, von den Reaktionen auf die Nadeln. Einfach irgendwo anfangen und spüren, wo es hingeht, auf Grund der Reize, die vom Tätowierten zurückkommen, den unwillkürlichen Muskelspannungen, den Lauten, die er oder sie von sich gibt, in einen echten Dialog treten, sich gemeinsam auf ein Abenteuer einlassen. Vielleicht, wenn ich die richtigen Leute gekannt hätte, Leute aus der Szene, wie sie jetzt zu mir kommen, Leute mit Kunstverstand, ich hätte nie zu so radikalen Mitteln gegriffen. Heute, heute kommen Leute zu mir, Künstler, Schriftsteller, Musiker, die sagen: „Meister, mach mit mir, was du willst!“ Und ich sage ihnen: „Nicht was ich will. Was wir beide wollen.Wir beide werden dieses Abenteuer bestehen, wir beide werden versuchen, dieses Kunstwerk zu schaffen. Und wir beide werden siegen – oder untergehen.“ Und ich sage ihnen offen: „Es kann schiefgehen. Wir können scheitern. Das Tattoo wird vielleicht der größte Scheiß der Weltgeschichte, und dann stehst du da damit! Es gibt keine Erfolgsgarantie.“ Und die Leute sind geil auf das Risiko. Sie lassen sich darauf ein, sie zahlen im Voraus, sie unterschreiben einen Wisch, dass sie von vornherein mit dem Ergebnis einverstanden sind und auf jedes Rechtsmittel verzichten, und dann arbeiten wir zusammen, frei, in dieser wortlosen Kommunikation von Nadeln und Tusche und Körperspannung. Er spürt auf der Haut, was vor sich geht, den Schmerz der Einstiche, die Hitze der Entzündung, und ich bekomme alles von ihm zurück durch meine Hand, die seine Haut unter Spannung hält, ich spüre die Reaktionen seines oder ihres Körpers, und so arbeiten wir zusammen, wie im Rausch, und so entsteht – meistens – ein Kunstwerk.

Aber damals: „Mach mir dies, mach mir das! Mach mir einen Dornenring um den Oberarm, mach mir Stacheldraht auf den Hals, mach mir ein Arschgeweih, einen Tiger, eine Mondgöttin!“ Wenn ich einem Kunden vorgeschlagen habe: „Komm, lass uns was Freies machen, was Spontanes, was Niedagewesenes!“, dann haben sie gesagt: „Au ja, super, zeichne mir mal einen Entwurf!“ Aber genau das wollte ich eben nicht machen. Aus dem musste ich einfach ausbrechen.

F: Hätten Sie es nicht gleich mit der Malerei versuchen können, mit der Sie jetzt so großen Erfolg haben?

A: Das hätte nie geklappt. Wer war ich denn? Ein No-name. Ich hatte keine Kunstschule besucht, keine Meisterklasse, ich hatte keine Beziehungen zu irgendwelchen Galerien, ich kannte keine Kritiker. Mir war klar, ich muss etwas Unerhörtes machen, etwas Ungeheuerliches. Zuerst habe ich daran gedacht, Leichen zu tätowieren. Ich habe übers Internet Menschen gesucht, die bereit waren, mir ihren Körper nach ihrem Tod zu vermachen. Die wollte ich dann tätowieren und die Leichen haltbar machen und ausstellen.

F: Das klingt nach Gunther von Hagens.

A: Richtig. Von da kommt die Idee der Plastination. Auch noch eine andere Inspiration war da. Ich dachte, wenn man übers Internet jemand finden kann, der bereit ist, sich töten und essen zu lassen, dann muss es um so eher möglich sein, jemand für mein Projekt zu finden. Und es haben sich auch Leute gemeldet.

F: Aber…?

A: Es haben schließlich mehrere Gründe gegen dieses Projekt gesprochen. Da war einmal die ungewissen Wartezeit. Dann ist das Tätowieren einer Leiche ja auch ein Widerspruch in sich. Der Tote spürt nichts. Und zum Tätowieren gehört eben der lebendige Schmerz. Einen Toten könnte man genausogut anmalen und mit farblosem Lack überziehen. Das wäre kein wesentlicher Unterschied. Ein Unterschied in der künstlerischen Technik, aber kein Unterschied im Wesen. Auch aus diesem Grund bin ich wieder von der Idee abgekommen. Aber der entscheidende Grund war: Die Leute, die sich gemeldet haben – auch die wollten einen Entwurf sehen. Oder sie wollten mir überhaupt Vorschriften machen, mit welchen Motiven ich sie tätowieren sollten und in welcher Pose sie nach ihrem Tod ausgestellt werden wollten: Als Ninja in Angriffsposition oder als Ritter mit erhobenem Schwert oder als Mondgöttin. Genau das Zeug, das sie sich im Leben gern hätten stechen lassen, aber nicht getraut haben, das wollten sie dann im Tod darstellen. Widerlich.

F: Für die Form der Aktion, zu der Sie sich dann letztlich entschlossen haben, gab es da auch ein Vorbild, eine Inspiration?

A: Unmittelbares Vorbild natürlich nicht. Denn ich musste ja etwas machen, was noch niemand gemacht hatte. Aber die Inspiration, die kam im Grunde von den Graffitikünstlern, von den Sprayern. Die sind ja auch immer mehr von statischen auf mobile Untergründe übergegangen. Statt der Eisenbahnunterführung haben sie zum Beispiel Eisenbahnwaggons als Ziel ihrer Aktionen genommen. Damit haben sie sozusagen eine Lokomotive vor ihre Botschaft gespannt, die die Botschaft überall ins Land gebracht hat. Oder sie haben ihre Initialen auf LKW-Planen gesprüht. Ich habe eine Zeitlang überlegt, private PKWs zu besprühen.

F: Ein fast so schlimmer Tabubruch wie der, den Sie dann begangen haben.

A: Ja, das mussten Sie jetzt sagen. Als Pointe ist das ganz gut, aber in Wahrheit ist den meisten Menschen doch die eigene Haut noch ein gutes Stück näher als der Lack ihres Autos.

F: Und damit haben Sie spekuliert.

A: In dem Moment, wo mir die Idee bewusst wurde, war mir klar, dass ich damit eine ungeheure Aufmerksamkeit erzielen würde. Und das ist es, was man als Künsteler will: man will, man muss einfach wahrgenommen werden. Bevor man sich ausdrücken kann, bevor man in Dialog treten, kommunizieren kann, muss man wahrgenommen werden.

F: Man könnte ihre Aktion dann als grausamen Reklamegag abtun.

A: Bei meiner ersten Aktion war, ich muss das eingestehen, die Reklame das vorherrschende Motiv. Der Effekt hat sich aber erst beim dritten Fall eingestellt. Dem ersten hat man nämlich gar nicht geglaubt. Es war ein junger Mann, ein holländischer Student auf Ferienreise, und der war von niemandem vermisst worden. Es hatte keine Abgänigkeitsanzeige gegeben. Als der dann zur Polizei ging und meldete, ein schwarz maskierter Mann hätte ihn in einer Zelle gefangen gehalten und ihm gegen seinen Willen ein Tatoo gestochen, hat man die Anzeige zwar entegengenommen, aber weiter nicht viel unternommen. Weil das Tattoo so ungewöhnlich war, haben die Polizisten das einfach für ein schlechtes Tattoo gehalten, für ein misslungenes, und haben gedacht, der hat sich die Entführungsgeschichte ausgedacht, weil er sich für das Tattoo schämt. Auch die Medien haben ähnlich gedacht und den Fall nur in den Randnotizen im Lokalteil gebracht, aks Kuriosum, wenn überhaupt.

F: Waren Sie enttäuscht?

A: Mir war klar, dass sich der Effekt erst nach und nach einstellen kann. Als zweite Zielperson habe ich eine Frau gewählt, so Mitte dreißig. Anna S. Die Arbeit mit ihr war sehr interessant. Sie hatte am Anfang große Angst, schreckliche Angst. Und sie hat mir auch Leid getan. Ich glaube, dass viel von diesem Mitleid, diesem Mitgefühl in die Linienführung mit eingeflossen ist. Ich habe ihren Schmerz und ihre Angst an die Oberfläche geholt, ihr innerstes Gefühl auf ihrer Haut eingezeichnet. Und dann, nach einiger Zeit, hat sich die Beziehung gewandelt. Sie hat einfach ein paar Tage gebraucht um zu verstehen, dass ich kein Perverser bin, dass ich sie nicht sexuell missbrauchen oder töten will. Am Anfang musste ich sie für die Arbeit fesseln, aber später ist sie sehr ruhig geworden. Wenn ich mit dem Tagespensum fertig war – ich habe ja nicht mehr als zweieinhalb Stunden jeden Tag mit ihr gearbeitet – dann ist sie ganz still da gesessen und hat aufmerksam jede einzelne Linie sozusagen Millimeter für Millimeter mit den Augen abgesucht, so als ob sie versucht hätte, eine Schrift zu entziffern, als ob sie versucht hätte, sich selbst zu entziffern. Sie hat mich auch um einen zweiten Spiegel gebeten, um ihren Rücken und ihren Nacken sehen zu können. Das Interessante war, dass sie mich beinahe wieder um den Bekanntheitseffek gebracht hätte. Sie ist nämlich nicht zur Polizei gegangen. Sie hat das Tattoo unter ihrer Bekleidung versteckt. Und ihrem Mann hat sie gesagt, sie kann sich nicht erinnern, was geschehen ist, sie hat vielleich einen Unfall mit Gehirnerschütterung gehabt, verbunden mit Gedächtnisausfall. Ihr Mann hat natürlich zuerst an eine Affäre gedacht und dann an eine Psychose. Und als sie dann wirklich einmal einen Ohnmachtsanfall hatte, hat er den Notarzt gerufen und sie ins Spital bringen lassen, und da hat man dann die Tätowierung gesehen. Die Anzeige hat dann er erstattet.

F: Und was, meinen Sie, war der Grund für die Zurückhaltung der Frau? War da nicht doch eine Art Liebesbeziehung entstanden?

A: Es entsteht zweifellos eine sehr starke Beziehung. Aber das hat nichts mit Liebe oder Hass zu tun oder mit Sexualität. Es gibt dafür einfach kein Wort, keine Bezeichnung, weil vermutlich nur wenige Menschen so etwas jemals erleben, deshalb gibt es auch keinen allgemein verständlichen Begriff dafür. Ich hatte keinerlei sexuelle Begierden dieser Frau gegenüber, und ich bin ziemlich sicher, dass sie sie auch nicht mir gegenüber hatte. Sie hat sich zu der ganzen Sache nie öffentlich geäußert, sie hat Interviews und Fotos immer abgelehnt. Ich glaube, dass sie sehr froh war, als ich ihr angekündigt habe, dass die Arbeit nun vollendet war und ich sie freilassen würde. Aber gleichzeitig habe ich doch auch gespürt, dass sie enttäuscht war, dass das Abenteuer nun vorbei war, dass wir uns trennen mussten. Es war sicher beides vorhanden. Vielleicht wäre sie ja später auch zur Polizei gegangen, vielleicht hat sie einfach diese Zeit gebraucht, um mit sich ins Reine zu kommen, um sich klar zu werden, was eigentlich geschehen war. Ich glaube, wir haben ungefähr zehn Tage zusammen verbracht, es war schon eine recht komplexe Arbeit.

F: Aber Ihnen hat die Trennung nichts ausgemacht?

A: Oh doch. Für mich war die Trennung von meinem Gegenüber auch immer hart. Aber es hat ja keinen Sinn, die Beziehung über das ihr bestimmte Maß hinaus fortzusetzen. Und das Maß ist eben die Vollendung des Werks. Irgendwann kommt der Punkt – auch wenn man anfangs keine Vorstellung hat von dem, was entstehen soll – irgendwann kommt der Punkt, wo man weiß, das ist es jetzt. Jede zusätzliche Linie wäre zuviel. Und dann muss man aufhören. Dann muss man sich trennen. Und dieses Wissen, dieses Gefühl von der Notwendigkeit der Trennung, das habe natürlich nur ich gehabt. Meine Partner wussten das nicht, konnten es nicht wissen, weil sie zwar Partner waren, aber doch in gewisser Weise passive Partner. Ich war der aktive, der wissende Teil. Vielleicht war es für mich leichter. Meine Objekte mussten annehmen, dass sie mich nie mehr wiedersehen würden, es sei denn, vor Gericht. Ich aber konnte hoffen, ihren Weg weiter verfolgen zu können durch die Medien. Ich konnte hoffen, im Grunde damit rechnen, dass sie für mich weiter tätig sein würden, dass sie meinen Ruf verbreiten würden, dass sie, wo immer sie hinkamen, von meiner Tätigkeit künden mussten. Andererseits, muss ich sagen, haben sie etwas von mir mitgenommen, jeder und jede hat etwas Einzigartiges von mir mitbekommen auf Lebenszeit, während mir nur die Erinnerung bleibt.

F: Wie ist es weitergegangen?

A: Mein dritter Versuch war künstlerisch gesehen ein absoluter Misserfolg. Ich hatte mir für diesen Versuch ein junges und sehr hübsches Mädchen ausgesucht, ich glaube, sie war achtzehn. Sie hat leider nichts, aber auch gar nichts verstanden, weder intellektuell noch gefühlsmäßig. Sie war genau der Typ, der sonst zu mir um ein Arschgeweih oder eine Mondgöttin gekommen wäre. Als sie über den ersten Schock hinweg war, hat sie mich nur beschimpft, sich beklagt, dass ich ihren makellosen Körper verunstalte, dass mein Tattoo absolut wertlos sei und so weiter. Ich musste sie schließlich knebeln, um die Arbeit halbwegs fertigstellen zu können und es ist wirklich nichts besonderes draus geworden. Es hat einfach ihre Mitarbeit völlig gefehlt.

F: Aber von der Publicity her gesehen war das Ihr erster großer Erfolg.

A: Von der Publicity her war es ein großer Erfolg. Natürlich. Sie war hübsch, ein gefundenes Fressen für die Fotografen, und, wie man so sagt, eine absolute Medienschlampe. Und damit ist natürlich jetzt der Hype losgegangen. Jetzt ist auch der Polizei klargeworden, dass da ein Serientäter am Werk ist, man hat sich auch an den holländischen Studenten wieder erinnert und ihn noch einmal einvernommen. Man hat auch Kunstsachverständige und Profiler herangezogen, erstens um festzustellen, ob es wirklich in allen drei Fällen derselbe Täter war, und dann eben, um irgendwelche Hinweise auf die Person, auf den Charakter zu bekommen. Und die Sachverständigen haben die Öffentlichkeit damit überrascht, dass sie erklärt haben – also vor allem Diane Waterhouse war da führend – nicht nur, dass es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um denselben Täter handelt, sondern auch, dass, bei allen Vorbehalten gegen die gewaltsame und menschenverachtende Vorgangsweise, man den Arbeiten einen gewissen künstlerischen Gehalt nicht absprechen könne. Jetzt haben sich die Medien natürlich überschlagen, und die kleine Göre und der holländische Student sind zusammen in Talkshows aufgetreten und gewisse Illustrierte haben die beiden schon als Paar kolportiert.

Für mich war natürlich jetzt die Frage, was mach ich als nächstes. Mir war klar, die Medien warten darauf, wer wird das nächste Opfer. Und sie haben natürlich damit gerechnet, dass es wieder jemand sein wird mit einem gewissen Sexappeal. Das wollte ich unterlaufen. Zuerst habe ich mir gedacht, als nächstes nehme ich einen widerlichen, alten Fettsack. Mal sehen, was ihr daraus macht. Ab jetzt war das eben ein Spiel mit den Medien. Aber das hat mir doch selber wiederstrebt. Ich meine, ich hätte nichts gegen einen dicken Menschen gehabt, das habe ich später auch bewiesen. Aber ich wollte eben keinen widerlichen alten Fettsack, das ist schon ein Unterschied. Ich habe mich dann für einen kleinen, sehr adretten älteren Herrn entschieden, der mir eines Tages in Köln aufgefallen ist. Ich habe mir ja für jedes Projekt eine andere deutsche Stadt ausgesucht, einerseits, um mein eigenes Risiko zu minimieren, andererseits, um den Publicityeffekt zu erhöhen.

F: „Ganz Deutschland hält den Atem an“ war wirksamer als „Ganz Berlin hält den Atem an“.

A: Richtig. Meine erste Aktion war in Berlin gewesen. Berlin, München, Darmstadt, und jetzt eben Köln. Das war die Route bis dahin. Der Mann nun, er ist als Joachim R. bekannt geworden, mit ihm war das eine unglaubliche Arbeit. Er war überhaupt nicht schockiert. Er hat alles mit der größen nur denkbaren Ruhe hingenommen. Er war der erste, bei dem ich bis ins Gesicht gegangen bin und bis in die Fingerspitzen. Er hat sehr wenig gesprochen, und das war mir recht so. Aus Worten entstehen nur Missverständnisse. Ein Muskelzucken ist einfach eine Tatsache, und ein Stich in die Haut ist auch eine Tatsache. In der Kunst geht es viel weniger um Bedeutungen als um Tatsachen. Erst nachdem unsere Arbeit schon beendet war, erst nachdem ich ihm den Zeitpunkt seiner Freilassung bekanntgegeben habe, hat er mir gesagt, dass er Jude ist. Und dass er deshalb einen besonderen Bezug zu Tätowierungen habe. Sie wissen, die Geschichte mit den Lampenschirmen. Und seiner Mutter hatte man eine Nummer in den Unterarm tätowiert. Und dass es ihm als gläubigem Juden verboten sei, sich tätowieren zu lassen, weil der Körper ein Geschenk Gottes sei, das man nicht verändern dürfe. Und als ich daraufhin das Tattoo betrachtete – er ist noch nackt vor mir gesessen, als er das erzählt hatte, ganz ruhig, und hat eine Zigarette geraucht – da war alles das in dem Tattoo enthalten. Es war alles drin und er hatte es mir schon längst erzählt und ich hatte es nach seinem Diktat in seine Haut geritzt. Dieser kleine Mann – er war ein unbedeutender Antiquitätenhändler, er hatte es hauptsächlich mit Biedermeiergläsern und Jugendstildrucken zu tun – er verstand etwas von Kunst. Er hat alles erfasst. Er ist zu Diane Waterhouse gefahren, hat sein Hemd ausgezogen und sie gefragt: „Was bin ich wert?“ Und sie hat ihm einen Schätzwert gesagt. Sie hat ihm eine Summe in Dollar genannt und gesagt: Das ist das Minimum. Und er hat gesagt: Gut, jetzt weiß ich es, und hat sein Hemd wieder angezogen. Aber das war von ihm nicht dieser jüdische Krämergeist. Das war von ihm eine Aktion, das war seine Aktion. Er hat sein Hemd nämlich nie wieder vor jemandem ausgezogen. Das war seine Antwort an mich. Und ich musste das hinnehmen. Diane Waterhouse hat über die Geschichte natürlich einen riesigen Artikel im New Yorker geschrieben, bei jeder Vernissage hat sie die Geschichte erzählt, wie der kleine Jude zu ihr kommt und sich schätzen lässt.

Jetzt hatte ich, was ich wollte. Jetzt hatte ich internationale Pulbicity, die Aufmerksamkeit der Kunstwelt. Ganz klar, dass jetzt die Polizeifotos von Anna S. und Joachim R. den Weg in die Öffentlichkeit gefunden haben, neben denen von Arne und Jessica, die sich ja sowieso bei jeder Gelegenheit vor die Kamera gestellt haben. Sie können mir glauben, noch nie ist in der Fachwelt so viel über einen Künstler diskutiert worden, von dem überhaupt erst vier Werke bekannt waren. Und ich dachte, ich muss jetzt weitermachen. Es wäre mir gar nicht in den Sinn gekommen aufzuhören oder mich vielleicht zu stellen um irgendwie von meinem Ruhm, den ich jetzt schon hatte, profitieren zu können. Nein, ich dachte nur, okay, ich bin auf dem richtigen Weg, ich muss das so weitermachen, ich muss mich weiterentwickeln, aber auf genau diesem Weg, den ich nun einmal eingeschlagen hatte. Meinen nächsten Coup machte ich in Italien. Einfach, weil alle meinten, ich würde mir wieder eine neue deutsche Stadt aussuchen. Aber ich machte es in Venedig, genau zur Zeit der Biennale.

F: War das nicht ein bisschen plump?

A: Das war sogar sehr plump, aber ich bin damit durchgekommen. Und zwar aus dem einfachen Grund, weil man sich unsicher war, ob das jetzt ich war oder ein Neuer. Man hatte den nächsten Schlag in Deutschland erwartet, und jetzt kam er in Italien. Es hatte anlässlich der Biennale diese Diskussion gegeben, warum es in der bildenden Kunst keine Ismen mehr gibt, keine Gruppierungen, keine Schulen. Warum heutzutage jeder seine eigene Schule gründet, aber keiner ein Schüler oder Mitstreiter sein will. Und man hat gewitzelt, endlich ist es einem gelungen, eine Schule zu gründen, Nachahmer zu finden. Nach Impressionismus, Expressionismus, Surrealismus und so weiter gäbe es jetzt in der Kunst den Terrorismus. Und wieder mussten die Experten aufgeboten werden um festzustellen, ob es sich um eine Schülerarbeit oder um den Meister selbst handle. Interessanter Weise meinten ein oder zwei Experten tatsächlich, es sei ein Nachahmer am Werk. Es gab doch verschiedene Nuancen, die anders waren. Das kam aber daher, dass mein Ojekt ein algerischer Flüchtling war, mit dem ich überhaupt keine sprachliche Verständigungsmöglichkeit hatte. Das hatte doch einen Unterschied gemacht, obwohl ich glaube, dass ich die Arbeit im großen und ganzen recht gut gemacht habe.

F: Und dann haben Sie wieder in Berlin zugeschlagen.

A: Ja, wenn Sie so wollen. Ich dachte, jetzt gehe ich zurück nach Berlin, das erwartet keiner. Aber ich hatte mich getäuscht. Als mein Objekt – eine einfache Hausfrau, Tatjana F. – aus der Betäubung erwachte, sagte sie: „Ach, Sie sind der Tätowierer.“ Ich habe mit ihr nur eine mittelmäßige Arbeit zustande gebracht, die auch von der Kritik entsprechend bewertet worden ist, obwohl diese Tatjana sich gebärdet hat wie ein Pfau. Und die Bild hat getitelt: „Willkommen daheim!“. In der zitty haben damals Leute Kleinanzeigen geschaltet: „Hallo Tätowierer, ich gehe jeden Freitag nach 23 Uhr in der und der Straße spazieren, bin blond, mittelgroß und trage eine knallrote Latexhandtasche.“ Ich bin aufs Land ausgewichen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Bayern. Zwischendurch Abstecher nach Luxemburg, nach Österreich, nach Portugal. Ich musste einfach weitermachen, bis ich gefasst wurde. Ich wusste, dass das das Ergebnis sein würde. Eines Tages würde man mich fassen, mir den Prozess machen, mich einsperren. Anders konnte es nicht sein. Aber ich durfte es den Behörden nicht zu leicht machen, ich durfte nicht darauf hinarbeiten. Ich musste ehrlich spielen, mein Bestes geben.

Damals begannen die Leute in die Studios zu laufen und zu verlangen: „Mach mir auch sowas!“ Das ist sicher der Satz, den ein Tätowierer am häufigsten hört: „Mach mir auch sowas!“

Viele haben natürlich Angst gehabt, dass man sie dann für den Tätowierer halten wird, oder sie haben abgelehnt, weil sie den Stil nicht verstanden haben. Aber einige hatten instinktiv begriffen, worum es mir gegangen war, und haben ihren Kunden gesagt: „Ich mach dir was, aber du musst dich mir ausliefern, du musst mir vertrauen, und es wird ganz anders aussehen, weil ich ich bin und nicht der.“ Aber das wollten die Kunden nicht, die wollten nicht an einem Kunstwerk teilhaben, die wollten einfach nur so aussehen, als ob sie bei mir in Gefangenschaft gewesen wären. Das war das Eklige, es sind dann wirklich diese Imitationen rumgelaufen, manche direkt von den Polizeifotos oder den Illustriertenfotos runterkopiert.

Und da haben dann Diane Waterhouse und Franco Caselli eingegriffen und haben die erste Ausstellung organisiert, mit Vergrößerungen der Fotos und mit Live-Auftritten. Von den 12 echten Arbeiten von mir, die es damals schon gegeben hat, waren sieben bereit teilzunehmen. Und sie haben den ganzen Vorgang sehr klug analysiert, haben eine echte Interpretation meiner Kunst gegeben. Ich bin ja an sich kein Freund der Kunstinterpretation. Wenn das Kunstwerk nicht unmittelbar wirkt, dann hilft auch die Interpretation nicht. Das ist so wie bei einem Witz. Wenn man ihn nicht versteht und man kriegt ihn erklärt, dann lacht man trotzdem nicht mehr darüber. Aber hier war das notwendig, wegen der vielen Imitationen, die in Umlauf gekommen sind. Und da war viel meinen Zielpersonen zu danken. Waterhouse hat sehr einfühlsam mit ihnen gesprochen. In den Talkshows, da wurden sie ja immer nur nach dem Sensationellen gefragt, wie war der Überfall, wie war die Gefangenschaft, haben sie Angst gehabt. Waterhouse ist auf den künstlerischen Prozess eingegangen. Die Menschen haben dann berichet, was sie auf ihrer Haut erlebt haben, sie haben wirklich diese Körpererlebnisse geschildert, die sich ja eigentlich gar nicht in Worte fassen lassen, außer in so plumpe, dass es halt wehgetan hat. Das ist das Verdienst von Waterhouse, dass sie das aus ihnen herausgeholt hat. Für mich war das erschütternd. Ich habe nur den Film gesehen, der damals gedreht wurde, ich war nicht dort. Es war ja klar, dass man alle, die da hinkommen, genau unter die Lupe nehmen würde, von der Polizei her. Ich bin nicht hingegangen, aus Vorsicht, aber alle haben angenommen, dass ich doch sicher im Publikum sein werde, und ich habe das dann im Film gesehen, dass meine Ziepersonen manchmal solche Seitenblicke ins Publikum geworfen haben, als wollten sie sich von mir, der dort irgendwo unerkannt sein würde, eine Bestätigung holen. Für mich war das wirklich erschütternd.

Es ist dann in der Kunstwelt eine große und ernsthafte Debatte gelaufen, ob das korrekt war, was Waterhouse gemacht hat, ob es erlaubt ist, das, was ich mache, als Kunstwerk zu diskutieren. Waterhouse und Caselli haben natürlich nie den kriminellen Aspekt verleugnet oder heruntergespielt, aber sie haben betont, dass es eben trotz allem Kunst sei und auch unter diesem Blickwinkel betrachtet werden müsse. Andere haben gesagt, man darf einfach nicht Menschen zu Objekten degradieren, man darf nicht einfach einen Menschen so behandeln, als ob er nur eine aufgespannte Leinwand wäre. Dem haben sie entgegnet, dass ich das ja nicht tue, dass ich mich ja intensiv mit meinen Zielpersonen auseinandersetze, und dass das in der Arbeit ja auch sichtbar werde, und meine Zielpersonen haben das auch bestätigt. Und sie haben auch gesagt, dass der kriminelle Aspekt untrenntbar mit dem künstlerischen verbunden sei, dass das Kunstwerk wegen der kriminellen Art seiner Entstehung ein ganz anderes Kunstwerk sei als wenn es von vornherein im gegenseitigen Einverständnis entstanden wäre.

F: Dass das Kunstwerk so eine ganz andere Aussage bekommt?

A: Diesen Ausdruck haben sie zum Glück nie gebraucht. Ein Kunstwerk hat keine Aussage, die man von ihm abtrennen kann. Ein Kunstwerk ist. Einen Dichter hat man einmal, nachdem er ein ziemlich langes Gedicht rezitiert hat, gefragt, was er mit dem Gedicht sagten wollte. Er hat darauf geantwortet: „Was ich mit diesem Gedicht sagen will, ist folgendes:“ und dann hat er das Gedicht noch einmal rezitiert. Und als er dann später diese Anekdote erzählt hat, hat er hinzugefügt: „Und dabei hat es gar nicht gestimmt. Denn beim zweiten Mal war es schon ein ganz anderes Gedicht.“ Es war derselbe Text, aber ein anderes Gedicht.

Und Waterhouse hat auch ganz klar herausgearbeitet, dass es bei meinen Kunstwerken primäre und sekundäre Empfänger gibt. Dass die primären Empfänger eben meine Zielpersonen seien, die an der Entstehung unmittelbar beteiligt seien. Diejenigen aber, die hinterher das Tattoo sehen, seien sekundäre Empfänger, die ein ganz anderes Kunstwerk erleben, oder besser einen ganz anderen Aspekt des Kunstwerks. Sie hat gemeint, der Unterschied sei ungefähr so, wie wenn ein Komponist für einen Monarchen ganz allein die Uraufführung einer Oper veranstalten und der Monarch dann später seinen Freunden und Bekannten die Arien vorpfeifen würde. Und sie hat auch klargemacht, dass das Kunstwerk eben nicht an der Hautoberfläche endet, sondern dass alles dazu gehört, die Arbeit der Polizei, die Berichte der Medien, die Angst, die sich verbreitet hat, vor allem am Anfang, diese generelle Verunsicherung, aber auch dann eben die Nachahmung, die plötzliche Geilheit der Leute, selbst als Opfer des Tätowierers dazustehen. All das, sagte sie, können man nicht von den Bildern auf der Haut trennen, und ohne das wären die Bilder auf der Haut etwas ganz anderes, als was sie jetzt seien.

F: Wurden Sie an den Einspielergebnissen der Ausstellung und des Films beteiligt?

A: Nein, ich habe nie einen Groschen davon gesehen. Ich habe auch keine Forderungen gestellt, ich hätte das kaum einklagen können. Die juristischen Implikationen wären freilich hoch interessant gewesen, allein schon die Frage, wer nun eigentlich die Rechte an der Wiedergabe und Vervielfältigung des Werks habe. Ich glaube, es wurde sogar eine juristische Dissertation über den Fall geschrieben, von der Urheberrechtsseite her, aber ich habe sie nicht gelesen.

F: Die Ausstellung hatte aber noch Folgen.

A: Ja, die Ausstellung hatte Folgen. Jetzt traten tatsächlich Nachahmer auf den Plan, die sich meine Methode zu eigen gemacht hatten, zumindest äußerlich. Es waren auch einige wirkliche Künstler darunter, Marcel Gummer zum Beispiel, der leider sehr schnell gefasst wurde, oder Patrick M., den man bis heute nicht erwischt hat, oder Serafine, die auch immer noch auf freiem Fuß ist. Aber es es waren auch einige brutale Nichtskönner dabei, echte Trittbrettfahrer, die nur darauf aus waren, die Leute zu schocken und zu quälen. Und manche haben dann noch Geld verlangt. Die haben tatsächlich ihre Opfer hinterher angerufen und gesagt: „He, du bist jetzt ein Kunstwerk, was zahlst du dafür?“ Natürlich haben die nichts gekriegt, und viele sind auch deswegen erwischt worden. So hat das ganze bald wieder abgenommen, weil es im Grunde ja sehr riskant ist, sehr viel Arbeit macht und nichts einbringt.

F: Sie haben allerdings noch andere Nachahmer gefunden, die bis heute tätig sind.

A: Ja, das ist leider richtig. Indirekt geht das wohl auf mein Konto. Bei gewissen Jugendbanden ist das eine Mode geworden, das Branding. Man überfällt irgend jemanden, reißt ihm die Kleider vom Leib und drückt ihm ein Brandzeichen auf. Dann lässt man die Person wieder laufen. Hier geht es aber nicht um Kunst. Das sind reine Machtdemonstrationen. Welche Bande ist stärker, welche Bande kann mehr Menschen ihr Siegel aufdrücken. Die betrachten diese Menschen dann als ihr Eigentum, als ihre Herde. Sie veröffentlichen sogar Bulletins auf ihren Webseiten: Unsere Herde zählt schon 35 Stück, wieviel zählt eure? Die haben sich das zu eigen gemacht und es auf ihre Art abgewandelt, so dass es schnell geht, direkt auf der Straße, die machen die Brandeisen direkt auf der Straße heiß, mit einer Lötlampe. Aber das andere, das was ich gemacht habe, das geduldige, einfühlsame Tätowieren, das ist abgekommen, weil es eben nichts einbringt.

F: Ihnen hat es aber auf die Dauer doch etwas eingebracht.

A: Ja, weil ich der erste war, weil ich konsequent war, und weil ich gut bin. Wenn ich nicht gut wäre, wäre alles nur ein Publicitygag und man hätte mich schnell vergessen.

F: Sind Sie sich dessen sicher?

A: Nein. Ich sage das, weil ich es glauben muss. Ich könnte den Gedanken nicht ertragen, dass auch ein Scharlatan mit meiner Methode hätte Erfolg haben können. Nämlich dauerhaften Erfolg, der auch zehn Jahre später noch anhält. Das wäre schrecklich. Das würde ich nicht aushalten.